Monthly Archives: December 2015

Kino: Todd Haynes: “Carol”

Foto: Jabs

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Die Tage zwischen dem Weihnachtstrubel und dem knallenden Jahreswechsel (“zwischen den Jahren”) versuchen die wenigen Berliner, die nicht aus der Stadt geflohen sind, gewöhnlich zu einem Kinobesuch zu nutzen. Oft ist es kalt im Prenzlauer Berg und die Lichtspielhäuser glücklicherweise spärlich besucht. Das macht genüssliches Filmeansehen viel wahrscheinlicher. 

Wie es sich gerade herausstellte, war ich in einem Frauenfilm. Fast alle Besucher waren weiblich und kamen als Pärchen, es gab kaum biertrinkende Männer, eigentlich nur einen. 
“Carol” ist auch noch ein Weihnachtsfilm. 
Dieser Film ist so angenehm ruhig. Er zeigt klasse Bilder, die von wunderbar entsättigten Farben getragen werden. 
Die Handlung entwickelt sich behutsam, wird aber auch von rasanten Tempoverschärfungen aufgelockert. Aber sie nimmt mich einfach nicht mit. Mir fehlen interessante Wendungen, der Streifen
ist mir rgendwie zu glatt.
Mein absoluter Höhepunkt an diesem Abend war die Erkenntnis, dass auch Frauen über vierzig wunderschön aussehen können – danke Cate Blanchett!

Bücher: Eine schöne Silvestergeschichte von Alexander Osang

Foto: Jabs

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Matthäus-Passion

Alexander Osang (1998)

Ich bin Lothar Matthäus sehr dankbar, denn er hält mir einen Traum warm. Matthäus ist ein 37-jähriger Fußballnationalspieler. Er ist über ein Jahr älter als ich und somit Beweis dafür, daß ich immer noch einen Anruf vom Teamchef bekommen könnte. Man könnte mich zunächst einwechseln. Ich stünde als Joker zur Verfügung.

Wie damals Grabowski.

Ich hoffe, daß Matthäus‘ Kreuzband noch lange Jahre hält und auch all die anderen Sehnen und Knorpel, denn mit Matthäus ginge eine stille Karriere zu Ende, die einst mit Carsten Sängers Eintritt in die DDR-Oberliga begann. Meine Karriere. Sänger war siebzehn, als er beim FC Rot-Weiß Erfurt anfing. So alt wie ich. Von da an war ich bereit, eingewechselt zu werden. Ich machte nicht auf mich aufmerksam. Ich war da. Ich wartete. Sänger wurde Nationalspieler, ich war bereit. Eine Karriere als Friedensfahrer hatte ich damals bereits hinter mir. Auf der Strecke zwischen Königs Wusterhausen und Teupitz gewann ich unbemerkt manchen Prämienspurt. Meist rollte ich das Feld von hinten auf. Ich fuhr ein 26er Tourenrad von Diamant und hatte auch sonst nicht die besten Bedingungen. Wenn ich heute vorm Spiegel stehe, ahne ich, daß ich nie das richtige Lungenvolumen besaß und auch nicht diese spezielle Hebelwirkung von Jan Ullrichs Beinen. Ich wäre heute aber auch nicht so gern Jan Ullrich, sondern viel lieber Pantani. Aber das klappt nie. Als Pantani bin ich zu groß und zu schwer. Ich wäre der Harry Angstrom der Pantanis. Rabbit on the Road.

Nein, wenn Matthäus aufhört, ist es vorbei mit dem Sport. Ich könnte noch ein Marathonläufer werden oder ein Snookerspieler. Aber auch da müßte ich mich beeilen. Ebenfalls vorbei ist die Möglichkeit, daß Terroristen unseren Hörsaal stürmen, um das blonde Mädchen, in das ich verliebt war, zu entführen. Damit sind auch meine Chancen gesunken, das Mädchen zu retten. Später träumte ich davon, in den Untergrund zu gehen, wenn die Kapitalisten die Macht ergreifen sollten. Ich weiß nicht mehr genau, was ich da eigentlich tun wollte, aber ich glaube, ich wäre heute sehr allein, dort unten. Ich habe mich lange Zeit bereitgehalten, in den Bands “Pankow” oder “Rockhaus” mitzumachen. Unklar war, wie. Ich spiele leider kein Instrument. Es ist auch egal, weil sich beide Bands gerade auflösen. Na ja. Am Jahresende denkt man über solche Sachen nach. Wenn die Statistiken gemacht werden und die Nachrichtenmagazine mit Weltuntergangstiteln erscheinen, dann ist Zeit für eine persönliche Bilanz.

Ich war offensichtlich ein Joker, den niemand zog. Ständig bereit, aber unbenutzt. Vor ein paar Tagen fand mich jemand. Ein Kollege von “Radio Eins” meldete sich auf meinem Anrufbeantworter. Er wollte für eine Hitliste von mir die beste LP, die beste Single und den besten Sänger aller Zeiten haben. Ich wurde gebraucht! Manchmal werden Träume wahr. Ich widerstand der Versuchung, sofort zurückzurufen. “Sympathy for the Devil” von den Rolling Stones war natürlich der beste Song. Beziehungsweise “Whole lotta Rosie” von AC/DC. Dann wäre “Beggars Banquet” meine beste LP. Ansonsten “Let there be Rock”. Als Sänger käme Robert Plant in Frage. Wenn nicht “D‘yer Mak‘er” die beste Single aller Zeiten wäre. Dann könnte man Mick Jagger als Sänger nehmen. 

Und vielleicht “Should I stay or should I go” von The Clash als Single. Und “Harvest” von Neil Young als LP. Dann müßte ich nur noch T.Rex unterbringen und “Anchorage” von Michelle Shocked. Ich beschloß, noch etwas zu warten.

Ich fing an, Listen zu machen. Am nächsten Tag wurde die Anfrage auf meinem Anrufbeantworter wiederholt. Ich ignorierte das, weil mir noch unklar war, wie ich mit “Omaha” von den Counting Crows umgehen sollte und wie mit “Sweet Home Alabama” von Lynyrd Skynyrd. Ein Wochenende später rief ich die Potsdamer Nummer des “Radio Eins”- Kollegen an, um zu vermelden, daß ich am Problem arbeitete. Er war nicht da. Meine Listen begannen immer länger zu werden. Ich versuchte es noch zweimal. Nie war jemand da. Vielleicht nehme ich auch “Badlands” von Bruce Springsteen als Single. Oder “500 Miles” von den Hooters. Inzwischen läuft die Hitparade. Offenbar fingen sie erst mal ohne mich an.

Aber ich bin noch da, Kollegen. Ich bin bereit. Ich bin der Joker.

 

Diverses: Deutsche Sprache

Foto: Jabs

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Eine Seite aus “Das Kuckucksnest”, der diesjährigen Weihnachtsgeschichte Alexander Osangs:

 „Schafft Tanita denn das alles neben ihrem Studium und den Filmsächelchen?“, sagte Anna.

„Im Gegenteil, Anna, all die Geschichten von den traumatisierten syrischen Flüchtlingen, die Tani mit nach Hause bringt, das ist wie Feldarbeit zu ihrem Psychologiestudium. Das ist anders als bei, sagen wir mal, Zahnärzten.“

„Ich dachte nur, weil sie beim letzten Mal so abgekämpft aussah, Betty“, sagte Anna.

„Sie ist nur nicht so dick und zufrieden wie …“, sagte Bettina.

„Ich war ja gerade mit der Ministerin an der syrischen Grenze“, sagte Frank.

„Wenn es so weitergeht, wirst du mit deiner Ministerin bald in Syrien sein“, sagte Max. „Im Schützenpanzerwagen.“

„Es wird keine Bodentruppen geben mit uns“, sagte Frank.

„Ich weiß nicht, ob das nicht ehrlicher wäre“, sagte Max.

„Den Krieg spüren, was? Du kannst ja schon mal losfahren, Hemingway“, sagte Frank.

„Meine Zeitung konzentriert sich eher auf den Berliner Markt, wie du weißt. Du kannst mir später auf eurer Datsche deine Kriegserinnerungen diktieren, Molotow“, sagte Max.

„In Wildau“, sagte Anna, mit ihrer Augenbraue kämpfend. Katarina stellte sich vor, wie ihr Gesicht zerriss, aufsprang. Sie konnte sich nicht vorstellen, was darunter zum Vorschein kam.

„Manchmal denke ich, das hängt alles miteinander zusammen“, sagte Bettina.

„Was?“, fragt Katarina.

„Das, was Tanita und Frank machen“, sagte Bettina.

In dem Moment verschluckte sich Boris, hustete und prustete ein bisschen Fischsuppe über den Tisch. Er konnte gar nicht mehr aufhören, seine Augen tränten. Katarina schlug ihm auf dem Rücken, er sah sie aus den Augenwinkeln an. Es schien ihr, als habe er einen Lachanfall.

„Die Fischsuppe ist übrigens ausgezeichnet“, sagte Anna. „Ich weiß gar nicht, wie du das immer alles schaffst.“

Die anderen nickten. Es war die Ebene, auf der sie Frieden schließen konnten. Eine Hochebene. Das Schlachtfeld der Versehrten. Boris schnaufte neben ihr, sein kariertes Hemd war ein bisschen mit Fischsuppe bekleckert. Sie berührte ihren Mann am Bein. Er sah sie an, lächelte. Tani und Franki und die ganze Welt. Konnte das sein? Hatte er wirklich über Bettinas absurde Weltsicht gelacht? Wie schön das wäre, dachte Katarina.

Was macht eigentlich die Fernsehserie über die Sprinterinnen, fragte sie Anna. „The winner takes it all?“

„Ach, die deutschen Anstalten reden die ganze Zeit von den wunderbaren amerikanischen Serien. Aber wenn wir dann mal eine Idee dafür haben, verhindern sie sie“, sagte Anna. Das Gesicht weiß und starr wie eine Halloween-Maske. „Wir machen jetzt was über das Interhotel Neptun in den Achtzigern. Die Möbel da, die Gäste, die Orgien, die Stasi, Barschel. Das schreibt sich von allein. Im Soundtrack Aha, Spandau Ballett und Duran, Duran. Netflix sucht diese Stoffe.“

„Oder du fragst diesmal Claire Danes“, sagte Boris.

Sie sahen ihn an, als sei er über Wasser gewandelt. Katarina fragte sich, ob es wieder nur die Stimme in ihrem Kopf war. Der Spötter Boris, der dort überlebt hatte. Aber Boris schien alle Zweifel ausräumen zu wollen.

„Tanitas Freundin. Carrie“, sagte er. „Carrie Mathison. Sie ist doch sowieso in der Stadt.“

„Boris sieht ‚Homeland‘“, sagte Max.

Zu meiner Schulzeit hätte ich für diese Schreibweise sicherlich eine schlechte Note für den Ausdruck bekommen. 

Bei einem modernen Schriftsteller gilt das vielleicht als künstlerisches Mittel…