RONALD RENG
Wie ich Neues von Metallica suchte und den schönen Fußball fand
FC Liverpool – FC Barcelona, Champions League, 20. November 2001
Eines Abends ging ich aus dem Haus, um ein Fußballspiel anzuschauen. Ich kehrte mit der Überzeugung zurück, dass ich in Barcelona leben müsse. Ich war jung genug zu glauben, so treffe man Lebensentscheidungen; einfach so.
Fünf Jahre zuvor war ich nach London gezogen, wenn mich neue Bekanntschaften fragten, warum, antwortete ich: «Weil ich als Journalist im Ausland Erfahrungen sammeln wollte.» Die Wahrheit konnte ich ja nicht sagen. Ich war von München nach London gezogen, weil einmal in einer Bar ein englisches Mädchen meine Hand genommen und – es musste eine Liebeserklärung sein – den Eiswürfel aus ihrem Mund in meine Hand gespuckt hatte. Weil ich die Romane des südafrikanischen Nobelpreisträgers J. M. Coetzee gelesen hatte, der seine jungen Jahre in London verbracht hatte. Weil ich glaubte, in London würde ich so werden: von Mädchen mit Eiswürfeln überhäuft, ein Autor wie Coetzee.
Fünf Jahre später war ich von diesen beiden Zielen noch immer ein Stück weit entfernt, aber sonst recht zufrieden mit meinem Alltag. Ich schrieb als Tagelöhner für deutsche Zeitungen über den englischen Fußball, weil die festangestellten Korrespondenten zu bequem waren, sich eines profanen Themas wie Sport anzunehmen. Ich dachte nicht darüber nach, dass zwischen Coetzees Literatur und meinen kurzen Zeitungsartikeln ein Unterschied bestand. Ich schrieb. Damit war ich glücklich. Ich reiste durch Großbritannien, und die Erlebnisse machten mich noch glückseliger. Als ich den deutschen Nationalspieler Christian Ziege beim FC Middlesbrough besuchte, begrüßte mich sein Mitspieler, der unnachahmliche Paul Gascoigne: «Noch ein Deutscher – muss ich schon wieder über den verdammten Weltkrieg reden?» In Barnsely, wo ich den deutschen Profitorwart Lars Leese interviewte, luden mich im Nachtclub zwei Mädchen ein, mit ihnen nach Hause zu kommen. Sie wollten mir Vladimir zeigen, ihren Hamster. Klopfenden Herzens folgte ich ihnen, und als sie mich eine Stunde später, nach einer angeregten Diskussion über Brötchen mit Pommes frites, deutsche Torhüter und englische Bergwerkstreiks, hinausbaten, registrierte ich verblüfft: Sie hatten mir wirklich nur Vladimir den Hamster zeigen wollen. Ich sah keinen Grund, etwas an diesem Leben zu ändern. So fuhr ich am 20. November 2001 nach Liverpool. Es war ein Dienstag, kurios, was für Details man nie vergisst: Im Hotel fragte mich die Rezeptionistin, welche Tageszeitung ich bevorzuge, sie würden sie mir am Morgen vor die Tür legen, und ich dachte: In so einem vornehmen Hotel war ich noch nie. Dann ging ich auf mein Zimmer. Es hatte kein Fenster.
Markus Babbel, der deutsche Verteidiger des FC Liverpool, hatte die Idee gehabt, dass ich ihr Champions-League-Spiel gegen den FC Barcelona besuchen sollte. Sonst wäre ich gar nicht hingefahren. Ich wollte mit Markus eigentlich nur ein Interview über seinen großen Traum führen, einmal als Sänger und Gitarrist in der Heavy-Metal-Band Metallica aufzutreten. «Dann komm doch am Dienstag», schlug Markus vor, «du kannst dir unsere Partie gegen Barça anschauen, und am Mittwochmorgen reden wir über Metallica.» Ich war einverstanden.
Wie gewohnt erschien ich lächerlich früh im Stadion, gut siebzig Minuten vor dem Anpfiff. In englischen Fußballstadien wurden den Journalisten im Presseraum Sandwiches serviert, ungetoastete Toastbrote, in Dreiecke geschnitten, mit orangefarbenem Käse und süßlicher, brauner Gemüsesoße bestrichen. Ich wusste, es wäre cool gewesen, die Sandwiches eklig zu finden, und stopfte mich jedes Mal voll damit. Das ungetoastete Toastbrot klebte lange am Gaumen. Zu den Pappsandwiches trank ich englischen Filterkaffee mit Milch, der wie Tee mit Milch schmeckte, und redete mit den englischen Reportern, Henry Winter, Patrick Barclay, David Lacey. Ihre Spielberichte verschlang ich wie heilige Schriften. Englische Fußballreporter schrieben in einem erzählerischen Ton, mit einem unterschwelligen Humor, wie ich es aus Deutschland nicht kannte.
Angelsächsische Journalisten schrieben sogar Sportbücher mit literarischen Ambitionen. Solche Bücher würde ich mal schreiben, dachte ich, und tat nichts dafür, die Idee zu verwirklichen. Ich trug bloß im Stadion neuerdings Hemden zu einer grau- en Stoffhose mit Bügelfalten und glaubte deshalb, ich wäre so wie die englischen Reporter.
In einer Ecke saßen, eng zusammen, als müssten sie sich vor dieser fremden Welt mit Pappsandwiches und Bügelfaltenhosen schützen, die katalanischen Journalisten.
Es waren nicht mehr als sieben, acht Reporter. Draußen, in den Zeitungen und im Fernsehen, war Fußball schon das große, glitzernde Ding, am nächsten Morgen etwa würde die Zeitung El Mundo Deportivo in Barcelona auf 20 Seiten über die Partie berichten, und im Fernsehen palaverten Ex-Fußballer mit Bauchansatz, die sich nun Experten nannten, bereits unaufhörlich mit feurigem Ernst über Stürmer, die sich «zwischen die gegnerischen Linien fallen» ließen und so etwas. Aber hier drinnen, im Stadion, in der realen Welt des Fußballs, war die Boombranche noch immer eine überschaubare, geradezu mickrige Gesellschaft. Ein Trainer, ein paar Spieler, ein paar Journalisten. Auf dem Weg vom Presseraum zur Tribüne traf ich zufällig Markus Babbel, der wegen einer Krankheit nicht mitspielen konnte. Er unterhielt sich gerade mit einem blonden Mann auf Deutsch. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was der Mann erzählte. Ich weiß nur noch, dass es ausgemachter Blödsinn über Fußball war.
«Wer war denn das?», fragte ich entsprechend verächtlich, als der Mann weitergezogen war.
«Das war Campino von den Toten Hosen», flüsterte Markus.
Dann kamen die Spieler heraus. Der schmale Gang von den Umkleidekabinen hinaus ins Licht, ist im Stadion an der Anfield Road besonders lang, gut 30 Meter, dreimal so lang wie in den meisten Stadien. An seinem Ende geht es zwei Treppenstufen hinauf, über ihnen hängt ein Schild: This is Anfield. Die Liverpool-Profis berühren es mit der rechten Hand. Die Gegner sollen einen Kloß im Hals spüren. This is Anfield. Das Stadion, vollgepackt mit 40 000 Zuschauern, eine dunkle Masse im Flutlicht, begrüßte sie mit einer Stimme: Walk on through the wind, walk on through the rain, walk on, walk on, with hope in your heart. And you’ll never walk alone.
In dem Moment, als die 40 000 die Vereinshymne des FC Liverpool sangen, fühlte ich mich auch als neutraler