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Bücher: Ein Märchen
„Die Nachtigall und die Rose“ Oscar Wilde
“Sie sagte, sie würde mit mir tanzen, wenn ich ihr rote Rosen brächte”, rief der junge Student, “aber in meinem ganzen Garten ist keine rote Rose.” In ihrem Nest auf dem Eichbaum hörte ihn die Nachtigall, guckte durch das Laub und wunderte sich.
“Keine rote Rose in meinem ganzen Garten!” rief er, und seine schönen Augen waren voll Tränen. “Ach, an was für kleinen Dingen das Glück hängt. Alles habe ich gelesen, was weise Männer geschrieben haben, alle Geheimnisse der Philosophie sind mein, und wegen einer roten Rose ist mein Leben unglücklich und elend.”
“Das ist endlich einmal ein treuer Liebhaber”, sagte die Nachtigall. “Nacht für Nacht habe ich von ihm gesungen, obgleich ich ihn nicht kannte. Nacht für Nacht habe ich seine Geschichte den Sternen erzählt, und nun sehe ich ihn. Sein Haar ist dunkel wie die Hyazinthe, und sein Mund ist rot wie die Rose seiner Sehnsucht. Aber Leidenschaft hat sein Gesicht bleich wie Elfenbein gemacht, und der Kummer hat ihm sein Siegel auf die Stirn gedrückt.”
“Der Prinz gibt morgen Nacht einen Ball”, sprach der junge Student leise, “und meine Geliebte wird da sein. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie mit mir tanzen bis zum Morgen. Wenn ich ihr eine rote Rose bringe, wird sie ihren Kopf an meine Schulter lehnen, und ihre Hand wird in der meinen liegen. Aber in meinem Garten ist keine rote Rose, so werde ich einsam sitzen, und sie wird an mir vorübergehen. Sie wird meiner nicht achten, und mir wird das Herz brechen.”
“Das ist wirklich der treue Liebhaber”, sagte die Nachtigall. “Was ich singe, um das leidet er. Was mir Freude ist, das ist ihm Schmerz. Wahrhaftig, die Liebe ist etwas Wundervolles! Kostbarer ist sie als Smaragde und teurer als feine Opale. Perlen und Granaten können sie nicht kaufen, und auf den Märkten wird sie nicht feilgeboten. Sie kann von den Kaufleuten nicht gehandelt werden und kann nicht für Gold aufgewogen werden auf der Waage.”
“Die Musikanten werden auf ihrer Galerie sitzen”, sagte der junge Student, “und auf ihren Instrumenten spielen, und meine Geliebte wird zum Klang der Harfe und der Geige tanzen. So leicht wird sie tanzen, dass ihre Füße den Boden kaum berühren, und die Höflinge in ihren prächtigen Gewändern werden sich um sie scharen. Aber mit mir wird sie nicht tanzen, denn ich habe keine rote Rose für sie”. Und er warf sich ins Gras, barg sein Gesicht in den Händen und weinte.
“Weshalb weint er?” fragte eine grüne Eidechse, während sie mit dem Schwänzchen in der Luft an ihm vorbeilief. “Ja warum?” fragte ein Schmetterling, der einem Sonnenstrahl nachjagte.
“Er weint um eine rote Rose”, sagte die Nachtigall.
“Um eine rote Rose?” riefen alle, “wie lächerlich!”. Und die kleine Eidechse, die so etwas wie ein Zyniker war, lachte überlaut.
Aber die Nachtigall wusste um des Studenten Kummer und saß schweigend in der Eiche und sann über das Geheimnis der Liebe. Plötzlich breitete sie ihre braunen Flügel aus und flog auf. Wie ein Schatten huschte sie durch das Gehölz, und wie ein Schatten flog sie über den Garten.
Da stand mitten auf dem Rasen ein wundervoller Rosenstock, und als sie ihn sah, flog sie auf ihn zu und setzte sich auf einen Zweig.
“Gib mir eine rote Rose”, rief sie, “und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.”
Aber der Strauch schüttelte seinen Kopf. “Meine Rosen sind weiß”, antwortete er, “so weiß wie der Meerschaum und weißer als der Schnee auf den Bergen. Aber geh zu meinem Bruder, der sich um die alte Sonnenuhr rankt, der gibt dir vielleicht, was du verlangst.”
So flog die Nachtigall hinüber zu dem Rosenstrauch bei der alten Sonnenuhr. “Gib mir eine rote Rose”, rief sie, “und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.” Aber der Strauch schüttelte seinen Kopf. “Meine Rosen sind gelb”, antwortete er, “so gelb wie das Haar der Seejungfrau, die auf einem Bernsteinthron sitzt, und gelber als die gelbe Narzisse, die auf der Wiese blüht, ehe der Schnitter mit seiner Sense kommt. Aber geh zu meinem Bruder, der unter des Studenten Fenster blüht, und vielleicht gibt der dir, was du verlangst.”
So flog die Nachtigall zum Rosenstrauch unter des Studenten Fenster. “Gib mir eine rote Rose”, rief sie, “und ich will dir dafür mein süßestes Lied singen.” Aber der Rosenstrauch schüttelte den Kopf. “Meine Rosen sind rot”, antwortete er, “so rot wie die Füße der Taube und röter als die Korallenfächer, die in der Meergrotte fächeln. Aber der Winter ließ meine Adern erstarren, der Frost hat meine Knospen zerbissen und der Sturm meine Zweige gebrochen, und so habe ich keine Rosen dies ganze Jahr.”
“Nur eine einzige rote Rose brauche ich”, rief die Nachtigall, “nur eine rote Rose! Gibt es denn nichts, dass ich eine rote Rose bekomme?”
“Ein Mittel gibt es”, antwortete der Baum, “aber es ist so schrecklich, dass ich mir es dir nicht zu sagen traue.”
“Sag es mir”, sprach die Nachtigall ohne zu zögern, “ich fürchte mich nicht.”
“Wenn du eine rote Rose haben willst”, sagte der Baum, “dann musst du sie beim Mondlicht aus Liedern machen und sie färben mit deinem eigenen Herzblut. Du musst für mich singen und deine Brust an einen Dorn pressen. Die ganze Nacht musst du singen, und der Dorn muss dein Herz durchbohren, und dein Lebensblut muss in meine Adern fließen und mein werden.”
“Der Tod ist ein hoher Preis für eine rote Rose”, sagte die Nachtigall, “und das Leben ist allen sehr teuer. Es ist lustig, im grünen Wald zu sitzen und die Sonne in ihrem goldenen Wagen zu sehen und den Mond in seinem Perlenwagen. Süß ist der Duft des Weißdorns, und süß sind die Glockenblumen im Tal und das Heidekraut auf den Hügeln. Aber die Liebe ist besser als das Leben, und was ist ein Vogelherz gegen ein Menschenherz?”
So breitete sie ihre braunen Flügel und flog auf. Wie ein Schatten schwebte sie über den Gatten, und wie ein Schatten huschte sie durch das Gehölz. Da lag noch der junge Student im Gras, wie sie ihn verlassen hatte, und die Tränen in seinen schönen Augen waren noch nicht getrocknet.
“Freu dich”, rief die Nachtigall, “freu dich. Du sollst deine rote Rose haben. Ich will sie beim Mondlicht bilden aus Liedern und färben mit meinem eigenen Herzblut. Alles, was ich von dir dafür verlange, ist, dass du deiner Liebe treu bleiben sollst. Denn die Liebe ist weiser als die Philosophie, wenn die auch weise ist, und mächtiger als die Gewalt, wenn die auch mächtig ist. Flammfarben sind ihre Flügel, und flammfarben ist ihr Leib. Ihre Lippen sind süß wie Honig, und ihr Atem ist Weihrauch.”
Der Student blickte aus dem Gras auf und horchte. Aber er konnte nicht verstehen, was die Nachtigall zu ihm sprach, denn er verstand nur die Bücher. Aber die Eiche verstand und wurde traurig, denn sie liebte die kleine Nachtigall sehr, die ihr Nest in ihren Zweigen gebaut hatte.
“Sing mir noch ein letztes Lied”, flüsterte sie, “ich werd mich sehr einsam fühlen, wenn du fort bist.” Und die Nachtigall sang für die Eiche, und ihre Stimme war wie Wasser, das aus einem silbernen Kruge rinnt.
Als sie ihr Lied beendet hatte, stand der Student auf und nahm ein Notizbuch und eine Bleistift aus der Tasche. Sinnend schaute er vor sich hin.
“Sie hat Form”, sagte er zu sich, als er aus dem Gehölz schritt, “Sie hat ein Formtalent, das kann ihr nicht abgesprochen werden. Aber ob sie auch Gefühl hat? Ich fürchte, nein. Sie wird wohl sein wie die meisten Künstler: alles nur Stil und keine echte Innerlichkeit. Sie würde sich kaum für andere opfern. Sie denkt vor allem an die Musik, und man weiß ja, wie egoistisch die Künste sind. Aber zugeben muss man, sie hat einige schöne Töne in ihrer Stimme. Schade, dass sie gar keinen Sinn haben, nichts ausdrücken und ohne praktischen Wert sind.” Und er ging auf sein Zimmer und legte sich auf sein schmales Feldbett und fing an, an seine Liebe zu denken. Bald war er eingeschlafen.
Und als der Mond in den Himmel schien, flog die Nachtigall zu dem Rosenstrauch und presste ihre Brust gegen den Dorn. Die ganze Nacht sang sie, die Brust gegen den Dorn gepresst, und der kalte kristallene Mond neigte sich herab und lauschte. Die ganze Nacht sang sie, und der Dorn drang tiefer und tiefer in ihre Brust, und ihr Lebensblut sickerte weg von ihr.
Zuerst sang sie von dem Werden der Liebe in dem Herzen eines Knaben und eines Mädchens. Und an der Spitze des Rosenstrauchs erblühte eine herrliche Rose, Blatt reihte sich an Blatt, wie Lied auf Lied. Erst war sie bleich wie der Nebel, der über dem Fluss hängt, bleich wie die Füße des Morgens und silbern wie die Flügel des Dämmers. Wie das Schattenbild einer Rose in einem Silberspiegel, wie das Schattenbild einer Rose im Teich, so war die Rose, die aufblühte an der Spitze des Rosenstocks.
Der aber rief der Nachtigall zu, dass sie sich fester noch gegen den Dorn presse.
“Drück fester, kleine Nachtigall”, rief er, “sonst bricht der Tag an, bevor die Rose vollendet ist.” Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn, und lauter und lauter wurde ihr Lied, denn sie sang nun von dem Erwachen der Leidenschaft in der Seele von Mann und Weib.
Und ein zartes Rot kam auf die Blätter der Rose, wie das Erröten auf das Antlitz des Bräutigams, wenn er die Lippen seiner Braut küsst.
Aber der Dorn hatte ihr Herz noch nicht getroffen, und so blieb das Herz der Rose weiß, denn bloß einer Nachtigall Herzblut kann das Herz einer Rose färben. Und der Baum rief der Nachtigall zu, dass sie sich fester noch gegen den Dorn drücke.
“Drück fester, kleine Nachtigall”, rief er, “sonst ist es Tag, bevor die Rose vollendet ist.”
Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn, und der Dorn berührte ihr Herz, und ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Bitter, bitter war der Schmerz, und wilder, wilder wurde das Lied, denn sie sang nun von der Liebe, die der Tod verklärt, von der Liebe, die auch im Grab nicht stirbt. Und die wundervolle Rose färbte sich rot wie die Rose des östlichen Himmels. Rot war der Gürtel ihrer Blätter, und rot wie ein Rubin war ihr Herz. Aber die Stimme der Nachtigall wurde schwächer, und ihre kleinen Flügel begannen zu flattern, und ein leichter Schleier kam über ihre Augen. Schwächer und schwächer wurde ihr Lied, und sie fühlte etwas in der Kehle.
Dann schluchzte sie noch einmal auf in letzten Tönen. Der weiße Mond hörte es, und er vergaß unterzugehen und verweilte am Himmel. Die rote Rose hörte es und zitterte ganz vor Wonne und öffnete ihre Blätter dem kühlen Morgenwind. Das Echo trug es in seine Purpurhöhle in den Bergen und weckte Schläfer aus ihren Träumen. Es schwebte über das Schilf am Fluss, und der trug die Botschaft dem Meere zu.
“Sieh, sieh!” rief der Rosenstrauch, “nun ist die Rose fertig”. Aber die Nachtigall gab keine Antwort, denn sie lag tot im hohen Gras, mit dem Dorn im Herzen.
Um Mittag öffnete der Student sein Fenster und blickte hinaus. “Was für ein Wunder und Glück!” rief er, “da ist eine rote Rose! Nie in meinem Leben habe ich eine solche Rose gesehen. Sie ist so schön, ich bin sicher, sie hat einen langen lateinischen Namen”. Und er lehnte sich hinaus und pflückte sie. Dann setzte er seinen Hut auf und lief ins Haus seines Professors, mit der Rose in der Hand.
Die Tochter des Professors saß in der Einfahrt und wand blaue Seide auf eine Spule, und ihr Hündchen lag ihr zu Füßen.
“Ihr sagtet, Ihr würdet mit mir tanzen, wenn ich Euch eine rote Rose brächte”, sagte der Student. “Hier ist die röteste Rose der Welt. Tragt sie heut Abend an Eurem Herzen, und wenn wir zusammen tanzen, wird sie Euch erzählen, wie ich Euch liebe.”
Aber das Mädchen verzog den Mund. “Ich fürchte, sie passt nicht zu meinem Kleid”, sprach sie, “und dann hat mir auch der Neffe des Kammerherrn echte Juwelen geschickt, und das weiß doch jeder, dass Juwelen mehr wert sind als Blumen.”
“Wahrhaftig, Ihr seid sehr undankbar”, rief der Student gereizt. Und er warf die Rose auf die Straße, wo sie in die Gosse fiel, und ein Wagenrad fuhr darüber.
“Undankbar?” sagte das Mädchen, “ich will Euch was sagen: Ihr seid sehr ungezogen – und dann: wer seid Ihr eigentlich? Ein Student, nichts weiter. Ich glaube, Ihr habt nicht einmal Silberschnallen an den Schuhen, wie des Kammerherrn Neffe.” Und sie stand auf und ging ins Haus.
“Wie dumm ist doch die Liebe”, sagte sich der Student, als er fort ging, “sie ist nicht halb so nützlich wie die Logik, denn sie beweist gar nichts und spricht einem immer von Dingen, die nicht geschehen werden, und lässt einen Dinge glauben, die nicht wahr sind. Sie ist wirklich etwas ganz Unpraktisches, und da in unserer Zeit das Praktische alles ist, so gehe ich wieder zur Philosophie und studiere Metaphysik.” So ging er wieder auf sein Zimmer und holte ein großes, staubiges Buch hervor und begann zu lesen.
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Bücher: Weihnachtsgeschichte
Die 20-Uhr-Nachrichten Gottes
Eine Weihnachtsgeschichte von Alexander Osang 2024
Du siehst müde aus, Darling“, sagte Angelo. Ludwig nickte. Er roch eine leichte Fahne unter Angelos Parfüm. Champagner, dachte Ludwig. Weihnachtspiccolöchen. Er sah auf Angelos dunkelrot lackierte Fingernägel, die das Schwämmchen mit dem Make-up hielten, das sich langsam seinem Gesicht näherte. Ludwig schloss die Augen. Er atmete Angelos Duft ein. Molecule und Moët. Der Geruch des Maskenbildners. Klang wie ein französischer Arthouse-Film mit Charles Aznavour, dachte Ludwig. – For me, formidable.
Natürlich sah er müde aus. Er war um halb vier Uhr morgens aufgestanden, noch nicht nüchtern von den Schnäpsen, die er bis um eins gegen den Schmerz getrunken hatte. Vormittags hatte er noch eine halbe Stunde geschlafen. Doktor Hecht-Kurzschlaf hatten sie das im Studium genannt. Max jedenfalls hatte es so genannt. Doktor Hecht war in den 70ern ein Schlafwissenschaftler an der Charité gewesen, behauptete Max. Keine Ahnung, ob das stimmte. Max war im Sommer gestorben, im Schlaf in der Kopenhagener Straße, Hinterhof, erster Stock. Langschlaf.
Sie hatten seine Asche vor Rügen in die Ostsee gekippt, weil er das angeblich so gewollt hatte. Am Horizont standen Hunderte riesige Windräder im Meer wie ein Eisenwald. Ludwig war übel geworden auf dem Boot, ein Fischerkahn, der nur noch zu Seebestattungen rausfuhr, weil es keinen Fisch mehr gab in der Ostsee. Das Wasser hatte die Farbe von Max’ Asche gehabt. Ludwig spürte den Seegang wieder, das Schlingern. Das Leben.
Er öffnete die Augen und sah in den Spiegel.
Angelo stand hinter ihm und beobachtete sie. Sie sahen irgendwie bunt aus und abgekämpft, wie ein altes Papageienpaar. Angelo lächelte schief. „So schlimm, Lou?“, fragte er. Ludwig verstand, dass der Mann mit den rot lackierten Fingernägeln und dem grünen Samtpullover der nächste Mensch war, den er hatte. Niemand berührte ihn noch außer ihm.
Sein bester Freund war in diesem Jahr gestorben, vor drei Tagen war Anna ausgezogen. Heute Morgen hatte sie ein paar Sachen geholt und in ihren kleinen, silbernen Koffer gepackt. Sie wolle zu sich finden, sagte sie. In Marokko. An der Seite des stellvertretenden Leiters vom Sportressort, wie Ludwig wusste. Er durfte jetzt nicht weinen. In fünfundzwanzig Minuten begannen die Nachrichten. Angelo fegte mit einer weichen Bürste über die Schulter seines Sprecherjacketts. Dann drückte er ein bisschen an Ludwigs Haaren herum, die dünn wirkten, zuckerwattig.
„Ist ja bald vorbei“, sagte Ludwig und lauschte dem Satz nach, der selbstmörderisch klang, obwohl er eigentlich nur diese News-Schicht meinte, die Weihnachtszeit, das furchtbare Jahr. Seine Stimmung passte zur Weltlage. Überall Krieg, er zeigte die Miene dazu. Er strich sich über den hellblauen Latz, den er auf der Brust trug, damit Angelos Make-up nicht sein Hemd oder die Krawatte befleckte. Die Krawatte war grün-rot, die Weihnachtsfarben, herausgelegt von Frau Schneider, der Nachrichtengarderobiere. Der andere Mensch, der ihn ab und zu berührte.
„Bleibste über die Feiertage hier?“, fragte Angelo. Ludwig zuckte mit den Schultern. Er hasste Hamburg. Nach all den Jahren hasste er es immer noch. Die roten Klinker, der Wind, die Bahnhöfe, die Einkaufspassagen, die Halstücher der Männer, die Halstücher der Frauen, die Farbe der Elbe, die Farbe des Himmels darüber, die menschenleere Hafen City, dieser schnoddrige, gut gelaunte Hans-Albers-Dialekt.
Jawohl, meine Herren, die Sorgen sind fern
Wir tun, was uns gefällt
Und wer uns stört, ist, eh er’s noch begreift
Längst von uns schon eingeseift
Jawohl, meine Herren, darauf können Sie schwören
Irgendwann würde er jemanden, der ihn am Nachmittag mit „Moin“ begrüßte, mit einem stumpfen Gegenstand niederschlagen und anschließend schnell nach Berlin zurückfahren. Er konnte die Stadt nur mit Anna ertragen, die aus Hamburg stammte und ihn aufgenommen hatte. Getragen, geführt, behütet. Sie war der Grund, warum er hier lebte, nicht die „Tagesschau“.
Ludwig hatte wirklich keine Ahnung, wo er Weihnachten verbringen sollte. Sein bester Freund lag auf dem Grund der Ostsee, seine Frau flog mit einem Biathlon-Reporter vom Norddeutschen Rundfunk nach Marrakesch, seine Schwester Katja lebte mit Mann, Sohn und Hund in Osnabrück. Sein Schwager war ein katholischer Eiferer. Sein Neffe driftete in dieselbe Richtung ab. Benedict war siebzehn und verbrachte seine Freizeit mit den Ministranten von St. Katharinen. Vater und Sohn würden kurz vor Mitternacht zur Christmesse aufbrechen wie in einen Club. Seine Schwester und der Hund blieben zu Hause. Ihr Hund hieß Matthäus. Ein deutscher Terrier namens Matthäus.
Das schaffte er nicht. Katja und er waren Heiden aus Weißensee, sie hatten aus ihrem Kinderzimmerfenster auf den jüdischen Friedhof geschaut.
Er könnte seine Mutter in Berlin besuchen, aber die würde die ganze Zeit über sein Verhältnis zu Anna reden wollen. Setz dich doch mal hin, Ludwig. Erzähl. Ein Biathlonexperte, sagst du? Was macht der denn in Marokko? Im Winter? Am Ende würde er schuld daran sein, dass Anna mit diesem Sportreporter in die Sonne flog, um zu sich selbst zu finden. Genauso wie sein toter Vater immer schuld gewesen war, an allem. Der Arsch, wie ihn seine Mutter nannte.
„Und du?“, fragte er. „London“, sagte Angelo. „Wir gucken uns dieses virtuelle Abba-Konzert an. Voyage“. „Habt ihr das nicht schon im letzten Jahr gesehen?“ „Ja, zweimal. Und im Jahr davor auch“, sagte Angelo. Er wackelt mit dem Kopf, sah sich im Spiegel an. „Jakob liebt Abba“, sagte er. „The winner takes it all“, sagte Ludwig und lief zur Tür. „Ich seh dich vor den ‚Tagesthemen‘“, sagt Angelo. „Unsere Christmette“.
Ludwig lief über den Flur zu den Redakteuren. Es war erstaunlich leer und leise in der Redaktion. Sie waren alle auf Sylt, auf Mallorca oder in St. Anton. Der Latz wippte auf seiner Brust. Er schmeckte Angelos Make-up, als hätte er ein Stück Kernseife abgeleckt. In der Schlussredaktion saßen nur zwei einsame Menschen, auf die zu Hause niemand wartete. Marlis und Jonah. Sie sahen nicht auf, als Ludwig den Raum betrat. Er war nur der Mann, der ihre Worte aufsagte, dachte er. Ein Mann mit Latz. Irgendwann, wahrscheinlich sehr bald, würden sie ihn ersetzen. Durch einen Avatar, ein Bandmitglied von Abba vielleicht, Benny, mit Weihnachtskrawatte.
I’m nothing special, in fact, I’m a bit of a bore.
Angelo bräuchten sie dann auch nicht mehr. Hologramme müssen nicht geschminkt werden.
Marlis reichte ihm seinen Manuskriptstapel, obwohl er die Nachrichten seit ein paar Jahren vom Teleprompter las. Die Leute dort draußen, so sagte man, liebten diese Blätter. Es gab ihnen das Gefühl, dass die Welt stillstand. Für fünfzehn Minuten hielt die Zeit an. Alles, was passierte, war auf diesen Blättern festgeschrieben. Der Altersdurchschnitt des „Tagesschau“-Publikums lag bei 64 Jahren. Sie hatten alles gesehen.
„Zwei Schalten?“, fragte er. Jonah sah ihn ungeduldig an. Er schüttelte den Kopf und nickte. Abwechselnd. „Wie bitte?“, fragte Ludwig. „Drei“, sagte Jonah. „Bethlehem, Moskau und dieser Fredi, der mit dem ersten ICE von Berlin nach Paris unterwegs ist.“ – „Polarexpress“, sagte Marlis. Ludwig nickte und machte sich auf den Weg ins Studio. Als er in der Tür war, rief Marlis: „Peseschkian“. Ludwig bleib stehen und drehte sich zu ihr um. „Der iranische Präsident heißt Peseschkian“, sagte sie. „Nicht Petzeschkin, wie du ihn gestern genannt hast. Er ist kein Russe, Ludwig. Er heißt Massud Peseschkian.“ Marlis grinste und klatschte sich mit Jonah ab.
Er war froh, als er endlich auf seinem Sprecherstuhl saß. Angelo tauchte noch einmal auf, nahm ihm den Latz ab, tupfte die Stirn ab, strich ihm über die Schulter. „Sehen die eigentlich echt aus?“, fragte Ludwig leise. „Wer?“, fragte Angelo. „Diese Abba-Hologramme in London“, sagte Ludwig. „Wenn du mich fragst, sehen die aus wie die Fußballer auf der Playstation“, sagte Angelo. „Sie haben kein Leben in den Augen.“ Ludwig nickte. „Sie haben kein Herz“, sagte Angelo und verließ das Studio.
Sein Maskenbildner spielte Playstation. Die Welt war ein einziges Rätsel. Ludwig war jetzt ganz allein mit dem Land dort draußen. Die Scheinwerfer über ihm knackten leise. Auf dem Teleprompter stand sein erster Satz: „Guten Abend. Ich begrüße Sie zur ‚Tagesschau‘“. Sie hatten das „… meine Damen und Herren …“ vor ein paar Tagen herausgestrichen. Es war der Öffentlichkeit mitgeteilt worden wie eine Verfassungsänderung. Er hatte nie darüber nachgedacht, aber jetzt, am Heiligen Abend, vermisste er es doch. Den Charme der Bordkapelle der Titanic.
„Es war mir eine Ehre, heute Abend mit Ihnen musiziert zu haben, Gentlemen.“
So ging man unter. Er dachte an Max, auf dem Meeresgrund. Sie hatten zusammen vergleichende Literaturwissenschaften in Leipzig studiert. Max hatte seit zwanzig Jahren am großen Wenderoman geschrieben, während unter seinem Fenster die Ringbahn entlang donnerte. Zwischen Prenzlauer und Schönhauser Allee. Er war friedlich eingeschlafen, hatte sein Vater gesagt, der eine Apotheke im Mahlsdorf betrieb. Ludwig verstand erst jetzt, wie unheimlich dieser Satz klang, hier, in der Welt der schlechten Nachrichten.
„Peseschkian“, sagte Ludwig. „Peseschkian.“ Die Uhr lief, ein Countdown, dann der Gong. Sein Name: „Heute im Studio: Ludwig Leicht.“
Es hatte, ganz am Anfang, Diskussionen um den Namen gegeben. Klingt wie Donald Duck, Lucky Luke oder Bertolt Brecht, hatte der Programmdirektor gesagt. Er hatte wirklich Donald Duck und Brecht in einem Satz verwendet. Das war für ihn dasselbe. Ludwig hätte seinen Namen geändert, darauf kam es nun auch nicht mehr an. Sie ließen ihn schließlich in Ruhe, weil er aus Ost-Berlin kam wie die Helden von „Das Leben der Anderen“. Der Film hatte gerade den Oscar gewonnen.
„Guten Abend. Ich begrüße Sie zur ‚Tagesschau‘.“
Berlin, Damaskus, eine französische Insel im Pazifik, über die ein tödlicher Sturm fegte, Trump, Peseschkian, dessen Name diesmal klang wie Pedestrian, der Spaziergänger von Teheran. Weihnachtswahlkampf in Deutschland. Fritze Merz. Dann stand der ARD-Korrespondent in Moskau und erwartete zwei Fragen zum Krieg. Er hieß Viktor und trug eine große Pelzmütze, die vielleicht die Härte seiner Aufgabe illustrieren sollte. Wie bei den Wetterreportern, die sich bei tropischen Wirbelstürmen an Laternenmasten festbinden ließen. Hinter Viktor war die Kremlmauer zu sehen, auf Ludwigs Teleprompter lief langsam die Frage an: „Wohin bewegt die russische Armee ihre Soldaten, die sie aus dem Westen von Syrien abzieht, Viktor?“
Er aber fragte: „Wie feiern Sie heute Abend eigentlich Weihnachten, Viktor? In einem Land, das keine Weihnachten feiert?“
Viktor stand vor der Kremlmauer wie ein Donkosake und nickte. Anschließend beantwortete er einfach die Frage, mit der er gerechnet hatte. Ukrainekrieg, Westfront, der Einfluss von Israel und der Türkei auf Syrien. Der harte Winter an der Front. Vielleicht geht der Russe nach Libyen. Es war, als habe Ludwig gar nichts gefragt. Als gebe es ihn nicht. Als habe er kein Leben in den Augen. Kein Herz. Er hätte auch fragen könne, wie man einen richtigen Borschtsch zubereitet, welchen Einfluss Tolstoi auf die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft hatte. Er hätte „I hope the russians love their children too“ von Sting anstimmen oder Gregori Kossonossow, den Wächter der Fliegerschule, imitieren können. Er hätte auf seinem „Tagesschau“-Schreibtisch Kasatschok tanzen können, ohne von Viktor an der Kremlmauer beachtet zu werden.
Und damit zurück zu Ihnen nach Hamburg.
Ludwig war ein Avatar. Er war Benny.
Im letzten Jahr tauchten von künstlicher Intelligenz hergestellte Dateien im Netz auf, in denen sich „Tagesschau“-Sprecher für ihre Nachrichten entschuldigten. Es gab auch so einen gefälschten Clip mit ihm, Ludwig Leicht, auf dem er bedauerte, monatelang unkritisch die Corona-Politik der Bundesregierung vermeldet zu haben. Sie hatten das ziemlich perfekt seinen Lippenbewegungen angepasst. Er hatte es sich einmal nachts angesehen, ziemlich angetrunken, und war sich nicht sicher gewesen, ob er das nicht wirklich alles gesagt hatte. Ehrlich gesagt hatte er sogar gehofft, es gesagt zu haben.
Nach neun Sendeminuten kamen sie zu dem ICE, der von Berlin nach Paris fuhr. Die erste Direktverbindung seit achtzig Jahren. Es war die klassische gute Nachricht im letzten Drittel der „Tagesschau“. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Vor einer Woche hatte Ludwig irgendeinen Beitrag über die Vorzüge von Seegraswiesen in der Ostsee angekündigt. Gut funktionierten auch Saurierfunde und wiederbelebte alte deutsche Handwerkstraditionen. Ludwig ging dann ein paar Schritte vom Schreibtisch weg, man sah seine Hosen und die Schuhe. Damit signalisierte er: Der lockere Teil beginnt. Unser Nachrichtenmann hat einen Unterleib.
Die ICE-Fahrt nach Paris dauerte acht Stunden. Man könne Balzac lesen, sagte der Kollege im Filmbeitrag. Er saß im Bordrestaurant, trank ein Gläschen Bordeaux und erzählte, was sich die Bahn fürs nächste Jahr vorgenommen hatte. Der Zug sei auf die Minute pünktlich in Paris angekommen, sagt er am Ende auf dem Bahnhof Paris Est. Genau vor einer Viertelstunde um 19.55 Uhr. Er strahlte in die Kamera, als habe er den ICE selbst gelenkt. „Was haben Sie denn von Balzac gelesen, Mark?“, hätte Ludwig gern gefragt. „Verlorene Illusionen?“
Er sah in die Kamera. Sein Text stand still, wollte von ihm vorgelesen, geschüttelt werden wie die Apfelbäume im Märchen. Und das machte er. Er schüttelte. Er fragte nach weiteren Verbindungen. München-Amsterdam. Berlin-Straßburg. Frankfurt-Bordeaux. Er ließ den Mann in Paris erzählen, dass auch die ICE-Strecke zwischen Hamburg und Berlin ab jetzt wieder mit hohem Tempo befahrbar war. Ohne Zwischenstopp in Uelzen. Es machte dem Kollegen offensichtlich Spaß, das Wort Uelzen in Paris auszusprechen. Er ließ ihn. Es war Weihnachten. Der Dax war auf Rekordhoch.
Ludwig dachte an all die Dinge, die er von diesem Stuhl aus im letzten Jahr verkündet hatte. All die Zahlen, die Prognosen, die sinnlosen Kurzinterviews mit Kollegen an der Front. Kandidaten, Kriege, Klimakatastrophe. Marlis, Jonah und ihre Kollegen schrieben ihm pro Sendung zwei Fragen auf, die er vortrug wie ein Drittklässler ein Gedicht. John Maynard war unser Steuermann. Aus hielt er, bis er das Ufer gewann. Er war die Maske der Berechenbarkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dachte Ludwig. Was passiert da eigentlich im Nahen Osten, Knut? Können Sie uns die verschiedenen syrischen Rebellen erklären, Peter? Welche Rolle spielt denn Pennsylvania bei den Präsidentschaftswahlen, Carola? Er moderierte die Sendung mit der Maus für die Generation 50plus.
Wie gefährlich ist eigentlich Hurricane Kirk, Viola?
In Wirklichkeit schossen ihm die Gedanken wie Leuchtfeuer durch den Kopf. So viele Gedanken, aber er saß eingeschlossen im Anzug, den ihm die Tagesschau-Garderobiere Marina Schneider herausgelegt hatte. Unfähig, der Welt mitzuteilen, was er dachte und fühlte. Ein Mann mit Locked-in-Syndrom. – „Ich weiß nicht, wer du eigentlich bist, Ludwig“, hatte Anna gesagt, bevor sie die Tür schloss. Er hatte keinen Text für eine Antwort.
Ans Ende ihrer heiligen Nachrichtenshow hatten Marlis und Jonah die Weihnachtsbotschaft des Papstes gestellt. Bilder aus Rom und dann, direkt vorm Wetter, die letzte Schalte an die Geburtsstätte Jesu. Bethlehem, wo jedes Jahr ein ARD-Reporter an der Mauer herumstand und vom Frieden redete, während aus dem Himmel im Nahen Osten immer mehr Bomben regneten. Der Krippen-Dienst des Ersten Deutschen Fernsehens. Meist waren es Urlaubsvertretungen, weil sich die Israel-Korrespondenten über Weihnachten von ihrem Knochenjob in der Heimat erholen mussten. Es gab keine Gans in Tel Aviv und auch keinen Schnee.
Heute Abend stand eine Frau vom Bayerischen Rundfunk an der Mauer zwischen Jerusalem und der Westbank. Cathrin Weiss. Sie war blond und etwas jünger als er. Sie sagte ihre Friedensbotschaft in einer schusssicheren Weste auf. Schalom, Cathrin.
Am Heiligen Abend im vorigen Jahr hatte der Papst seine Weihnachtsbotschaft mit den Worten begonnen: „Die Augen und Herzen der Christen aller Welt sind auf Bethlehem gerichtet. Dort, wo in diesen Tagen Schmerz und Stille herrschen, ist die seit Jahrhunderten erwartete Botschaft erklungen: Heute ist euch der Retter geboren. Er ist der Christus, der Herr.“
In der Nachmittagskonferenz hatte eine Redakteurin vorgeschlagen, daran zu erinnern. Man könnte das Papstsegment mit dem Bethlehemsegment verbinden. Die Christen auf dem Petersplatz, die Demonstranten in Jerusalem und die Bomben auf Syrien. Der Sinn des Segens. Es war allen zu kompliziert gewesen und wahrscheinlich auch zu unchristlich. Wer wollte schon den Papst widerlegen. Am Heiligen Abend. Sie machten also lieber das, was sie immer machten. Auf Nummer sicher gehen. Dafür waren Cathrin und Ludwig ja da. Die Urlaubsvertretung aus München und ihr Stichwortgeber aus Hamburg.
Auf dem Monitor stand die Frage: Wie viele Christen sind denn in diesem Jahr dem Ruf ihres Gottes nach Bethlehem gefolgt, Cathrin? Cathrin wartete. Sie nestelte an ihrer schusssicheren Weste. Er könnte sie natürlich fragen, was sie davon hielt, dass der beliebteste deutsche Politiker der Verteidigungsminister ist. Wieso lieben die Deutschen den Mann, der die Panzer befehligt, Cathrin?
Ludwig hatte vor ein paar Tagen „Konklave“ im Kino gesehen. Ralph Fiennes spielt einen zweifelnden Kardinal, der einen Papstnachfolger finden muss. „Gewissheit ist der tödliche Feind der Toleranz“, sagt der Kardinal an einer Stelle. „Gäbe es nur die Gewissheit und keinen Zweifel, so gäbe es kein Mysterium und folglich keinen Grund für den Glauben.“
Das wäre die Weihnachtsbotschaft, aber sie steckte fest im Nachrichtensprecherleib von Ludwig Leicht. „Ich weiß nicht, wer du bist, Ludwig“, hatte Anna gesagt. Er spürte Tränen aufsteigen. All das Elend in der Welt verband sich mit seinem eigenen.
„Ich heiße Leicht“, sagte Ludwig und sprengte den Panzer. „Lassen Sie sich bitte von meinem Namen nicht täuschen. Ich trage das Gewicht der Welt auf meinen Schultern. Mein bester Freund Max ist im Sommer gestorben. Er war 52 Jahre alt. Meine Frau hat mich heute Morgen verlassen. Ich bin ein Mensch, wissen Sie? Keine Nachrichtenmaschine. Ich lebe. Ich kenne Ihre Sorgen.“ – „Wirklich?“, fragte Cathrin vom Bayrischen Rundfunk.
In seinen Kopfhörern brüllte Marlis, er solle verdammt nochmal auf den Prompter gucken. Im Hintergrund hörte er Jonah mit Angelo streiten. Er zog sich den Kopfhörer aus dem Ohr und wartete, was passieren würde. Die Show lief noch anderthalb Minuten.
„Ich heiße Weiss, aber ich habe keine Ahnung“, sagte Cathrin vom Bayerischen Rundfunk. „Ich spreche kein Hebräisch. Ich spreche auch kein Arabisch. Ich habe Slawistik studiert.“ – „Ich hab vergleichende Literaturwissenschaften studiert, lese aber immer nur Nachrichten vor, die mir andere aufschreiben. Meine Frau sagt, sie wisse nicht, wer ich eigentlich bin“, erklärte Ludwig.
„Ich bin zum ersten Mal hier. Ich wohne in einem Hotel, das direkt an der Mauer steht. Die jüdischen Jungs am Grenzübergang waren mir sympathisch, die palästinensischen Kinder tun mir leid. Die amerikanischen Pilger sollten mir am nächsten sein, aber sie sind mir am fremdesten“, sagte Cathrin vom Bayerischen Rundfunk. „Im Foyer meines Hotels spielt ein automatisches Klavier die ganze Zeit ‚Fairytale of New York‘.“
Plötzlich hörte man im Studio das Intro, das Kneipenklavier der Pogues. Ludwig war sich sicher, dass Gott in die Tasten griff. Wer sonst. Ein Bierlied aus Bethlehem. Auf seinem Teleprompter lief der Text von „Fairytale of New York“ wie auf einer Karaokemaschine. Cathrin hatte die Musik offenbar im Kopfhörer. Sie wippte in Bethlehem. Ludwig Leicht begann zu singen.
Happy Christmas
I love you baby
I can see a better time
When all our dreams come true
Er merkte, wie sich eine Träne löste und langsam, langsam über seine geschminkte Wange lief, bis sie, eingefärbt in Angelos Make-up, schwer und beigefarben auf die Weihnachtskrawatte tropfte, die Frau Schneider ausgesucht hatte.
Anna Leicht stand an der Bar des Hamburger Flughafens und nahm einen Schluck von dem Weißwein, den sie bestellt hatte, um sich zu entspannen. Marcel war zum Zeitschriftenstand gegangen, um sich „ein bisschen Lesestoff“ zu holen, wie er sich ausgedrückt hatte. Sie nippte an ihrem Weißwein und bemerkte, dass die Leute an der Bar alle gebannt in eine Richtung schauten, zu den Bildschirmen, die an der Decke hingen. Dort sah man in Großaufnahme das Gesicht eines Nachrichtensprechers, das Gesicht ihres Mannes Ludwig, über das eine Träne lief, wie in dem Video „Nothing compares to you“ von Sinéad O’Connor. Der Barmann drehte den Ton mit der Fernbedienung hoch.
Man hörte Ludwig singen. I could have been someone, sang er. Ich hätte jemand sein können. Anna nickte zustimmend.
Dann wechselte das Bild zu einer Frau, die, wie man lesen konnte, in Bethlehem stand. Sie hieß Cathrin Weiss, war blond und sang ebenfalls. In der „Tagesschau“. Das war alles ganz erstaunlich.
You took my dreams from me, sang die Frau. Du hast mir meine Träume gestohlen. Richtig, dachte Anna. Dann wieder Hamburg. Ludwig.
I kept them with me babe
I put them with my own
Can’t make it all alone
Einen Moment lang war es still. „Ich schaff’s nicht allein“, sagte Ludwig leise. Die Kamera fuhr ganz dicht an sein tränennasses Gesicht. Das waren die besten Nachrichten, die sie seit langem gehört hatte, dachte Anna Leicht. Gut, dass sie ihren kleinen Koffer nicht aufgegeben hatte.
Ihr Mann sagte: „Und nun das Wetter für morgen, den 25. Dezember.“