Monthly Archives: December 2021

Bücher, Fotografie, Kunst: Ulrich Wüst: “Stadtbilder”

Fotos: Ulrich Wüst

Fotos: Ulrich Wüst

Wüst-Photonews

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Ein hochwertiger Bildband des großartigen Ulrich Wüst von Hartmann Books!
Die Aufmachung ist  klasse – Einband: dicke schwarze Pappen, Buchrücken: rotes Leinen, der Schutzumschlag lässt sich zu einem riesigen Plakat (ca. DIN A1) auseinanderfalten.
Die grafische Gestaltung (Florian Lamm) gefällt mir nicht so sehr: Typografie nicht schön, Schrift auf dem Einband ist unverständlich klein, Textseiten zu wenig Seitenrand (nicht mal Platz für Seitenzahlen).
Aber die Fotos: Alle Wüst-Motive sind Meisterwerke, intelligente Fotografien. In diesem Buch kann man 102 Ansichten aus Bernau, Berlin, Magdeburg, Leipzig, Rostock, Karl-Marx-Stadt, Jena, Templin, Prenzlau, Potsdam,  aus den Jahren von 1979 bis 1985 bestaunen. Allesamt unaufgeregte, aber außerordentlich präzise Blicke. Das Schwarzweiß in so vielen Grautönen… Es unterstreicht die gesellschaftliche Stimmung dieser Zeit in der DDR und erzählt Geschichte.

Bücher: Diesjährige Weihnachtsgeschichte von Alexander Osang

Foto: Jabs

Foto: Jabs

Schopska!

Meine Eltern kamen nicht nach Bulgarien. Bulgarien war kein Land für sie, sagte meine Mutter am Telefon, nachdem ich sie eingeladen hatte, mit uns Weihnachten zu feiern. Als ich nachfragte, welches Land denn für sie infrage käme, reichte sie den Hörer an meinen Vater weiter, wortlos. Ich saß im Lehrerzimmer der amerikanischen Schule in Sofia, wo ich dreimal die Woche Deutsch unterrichtete. Es war früher Nachmittag, ich sah auf die verschneiten Gipfel des Witoschagebirges und wartete darauf, wie mein Vater in Frohnau langsam zum Telefonapparat schlurfte. Sie telefonierten nur auf dem Festnetz, aus Sicherheitsgründen, wie sie sagten. Sie riefen auch nie hier in Sofia an, sie wollten angerufen werden. Mein Vater erklärte mir dann, dass die Letalitätsrate in Bulgarien dreimal so hoch sei wie die in Deutschland. Sie wären allerdings auch nicht gekommen, wenn sie nur halb so hoch gewesen wäre, die Letalitätsrate. Ich dachte kurz darüber nach, ihm zu erzählen, dass man ganz in der Nähe Ski fahren konnte, ließ es aber sein. Auch der bulgarische Schnee wäre unakzeptabel gewesen, zu nass sicher. Bulgarien war kein Land für sie. Das war die Haltung.

  Isabelle aber schien mich, je näher Weihnachten rückte, um die beiden Ignoranten zu beneiden. Das lag natürlich an ihrer Mutter. Die kam gerne.

  Wir holten sie am 24. Dezember vom Flughafen Sofia ab, mittags.

Kerstin trug eine riesige Fellmütze und einen filzigen gelben Mantel mit Pelzkragen. Sie dachte sicher, Bulgarien sei einer der wenigen Plätze auf der Welt, wo man noch bewundert wurde, wenn man Tierfelle trug, und das konnte gut sein. Jedenfalls betrat sie die Halle wie ein älterer Popstar, eine Countrysängerin vielleicht. Ein kleiner Mann in einem grauen Arbeitsanzug schob Kerstins Gepäck auf einem Flughafenwägelchen in unsere Richtung. Es waren zwei große Koffer, die aussahen, als stammten sie aus ihrer Jugendzeit.

  „Wie lange will sie denn bei uns bleiben?“, fragte ich Isabelle leise. „Dolly Parton?“

  „Lass mich in Ruhe“, flüsterte Isabelle und machte ein, zwei Schritte rückwärts. Sie lief ihrer Mutter nicht entgegen, sie floh vor ihr.

  Ich roch schon aus zehn Meter Entfernung Kerstins Parfüm, es war irgendwas mit Patchouli, soweit ich mich erinnerte. Sie hatte damit einst die Kleider besprüht, die sie in ihrem alten Leben auf Modenschauen vorführte, dem Ost-Berliner „Mode Circus“. Angeblich wirkte der Duft aphrodisierend.

  „Hallo, Mama“, sagte Isabelle.

  „Du siehst blass aus“, sagte Kerstin.

  Isabelle verdrehte die Augen, ihre Mutter steckte dem kleinen Mann eine Münze zu, sagte „Spassibo“, worauf Isabelle ihr erklärte, das sei Russisch und nicht Bulgarisch. Kerstin zuckte gelangweilt mit den Schultern und fragte nach einem Kühlschrank. Wegen der Sülze.

  Isabelle sagte: „Du hast doch nicht etwa Sülze dabei?“

  Kerstin redete irgendwas von Schweinefüßen, Fleischer Kopka aus Weißensee, Weihnachten ’87, und schon lief eines dieser Gespräche, die ich nicht mal zur Hälfte verstand. Es ging um Probleme einer Zeit, die ich nie kennengelernt hatte. Einer Zeit, in der man seine Kleider mit selbst angerührtem Patchouliparfüm besprühte, per 

Anhalter nach Ungarn reiste, um dort nachgemachte Jeans und Windelkleider zu kaufen, was immer das war, und Schweinefüße auskochte. Es war, als würden sich Erwachsene unterhalten. Ich fand das nicht unangenehm, niemand erwartete von mir, dass ich etwas verstehe. Im Gegenteil: Sie wollten, dass ich mich raushalte. Das 

entsprach meinem Temperament. Ich trug die Koffer zum Parkplatz. Sie waren schwer und beulig, die Griffe waren aus Kunstleder. 

  Kerstin musterte unseren Golf enttäuscht, wahrscheinlich hatte sie mit einer Staatskarosse gerechnet, S-Klasse mit Standarten, Fahrer in Livree, Hausbar im Fond. Immerhin hatten wir ein Diplomaten-Nummernschild, was bei der korrupten bulgarischen Polizei nützlich war.

  Ich fuhr. Isabelle und ihre Mutter setzten sich nach hinten und redeten weiter von Sülze und dem Flughafen Schönefeld, dem alten und dem neuen. Es wurde ruhiger, als wir die Stadt erreichten. Ich beobachtete im Rückspiegel, wie Kerstin die Gegend studierte. Sofia war keine besonders schöne Stadt. Ich hatte nie etwas anderes erwartet. Für Kerstin aber klang Sofia sicher verheißungsvoll, exotisch. So wie für mich Taschkent oder Casablanca geklungen hatte, bevor ich zum ersten Mal da war. Das nahm ich jedenfalls an. Ich hatte mal eine Erzählung von Wolfgang Herrndorf gelesen, die den Titel „Bulgarien“ trug. Der Erzähler wachte eines Morgens auf und hatte das Image einer bulgarischen Landschaft vor Augen, obwohl er das Land nie besucht hatte. Ich sah den Unglauben in Kerstins Blick, als wir vor der Botschaft hielten. Es war so ein bräunlich verspiegelter Glas-Betonwürfel, die alte DDR-Botschaft. Sie hatten nur das Schild ausgetauscht.

  Kerstin schaute ihre Tochter an, als hätte die eine schlechte Zensur nach Hause gebracht.

  „Sie bauen gerade eine neue Botschaft“, sagte Isabelle. „Wird richtig schick.“

  Kerstin nickte kurz, als genehmige sie den Plan.

  Ich dachte daran, wie unser Außenminister den Grundstein für die neue Botschaft gelegt hatte, zwei Jahre war das her. Wir waren damals gerade in Bulgarien angekommen. Niemand dachte an Pandemien und Letalitätsraten, das größte Problem war das Flugzeug unseres Außenministers, das wegen einer technischen Panne über eine Stunde zu spät kam. Alle schienen überrascht, wie geduldig der bulgarische Präsident auf den deutschen Staatsgast wartete. Sogar die FAZ war überrascht. Ich aber fragte mich, was er sonst so machte, der bulgarische Präsident. Natürlich sagte ich nichts. Niemand erwartet irgendeine Einschätzung von mir, dem mitreisenden Ehemann. Der Außenminister stand dann vor seinem Airbus, die Hände in den Hosentaschen, und redete in ein orangefarbenes ZDF-Mikrofon. Bei einem Kameraschwenk sah man Isabelle später kurz im „heute-journal“. Der Focus des Berichtes hatte allerdings nicht auf Bulgarien gelegen, sondern auf der Flugzeugpanne.

  „Ick dachte erst, sie ham den Palast hier wieda uffjebaut“, sagte Kerstin. Und dann in meine Richtung: „Den Palast der Republik, Tillmann.“

  Ich kicherte, aber Isabelle schaute ernst. Ich verstand, wie gesagt, oft gar nichts.

  Der Außenminister hatte damals eine Zeitkapsel mit nach Sofia gebracht, die im Grundstein der neuen Botschaft versenkt worden war. In der Zeitkapsel befand sich Erde, die sie unter dem Auswärtigen Amt in Berlin-Mitte ausgegraben hatten, offenbar unter großen Schwierigkeiten. Es sei ja alles versiegelt dort unten, hatte der deutsche Außenminister mehrfach gesagt, es hatte geklungen, als fließe sein eigenes Blut ins Fundament des Botschaftsneubaus. Der Außenminister stammte aus dem Saarland, er fing noch mal ganz neu an mit der deutschen Geschichte. Ich verstand das natürlich, obwohl die Zeitkapsel ja praktisch schon hier war. Wir standen gerade vor ihr.

  Wir betraten die alte DDR-Botschaft.

  Im Foyer wurde gerade das Bild des saarländischen Außenministers abgehängt und durch das seiner Nachfolgerin ersetzt, die aus Niedersachsen stammt. Sie hatte ihren Hoppla-hier-komm-ich-Gesichtsausdruck aufgesetzt. Irgendwie wirkte die Ostbotschaft mit dem Porträt der ersten deutschen Außenministerin nun noch mehr aus der Zeit gefallen, fand ich. Es roch nach süßen Bonbons, Desinfektionsmittel und Zigaretten, obwohl Rauchen natürlich verboten war. Die neue Außenministerin reiste gerade durch Europa. Sie besuchte Frankreich, England und Polen. Nach Bulgarien würde sie wohl erst mal nicht kommen, dachte ich. In drei Jahren war Isabelles Zeit als Kulturattaché vorbei, dann ging’s für uns nach Berlin zurück. Ich wurde schwermütig, wenn ich daran dachte. Ich war gern mitreisender Ehemann. Ich fühlte mich wohl in der Rolle. Zeitgemäß und dennoch nicht überfordert.

Ein Mondkrater ist nach dem Schwiegersohn benannt

  „Die Pionierleiterin“, sagte Kerstin, als das Porträt hing, und diesmal lachte auch Isabelle. Ich fragte nicht, worüber.

  Isabelle meldete ihre Mutter auf dem Botschaftsgelände an, dann gingen wir mit den Koffern zu unserer Wohnung, die gleich in der Nähe lag, auf der anderen Seite der Frederic-Joliot-Curie-Straße. Die Frauen liefen vorneweg. Ich trug die Koffer meiner Schwiegermutter. Frederic Joliot-Curie war der Schwiegersohn von Marie Curie. Es gab mal die Überlegung, ein chemisches Element nach ihm zu benennen, die aber wieder verworfen wurde. Ich hatte das nachgeschaut, weil ich Frederic Joliot-Curie mochte. Ich kann nicht genau sagen, warum. Ich habe nur eine Ahnung, über die ich ungern reden würde. Jedenfalls trägt ein Mondkrater seinen Namen.

  Unsere Wohnung, die sich in einem renovierten Jugendstilhaus befand, das kurz nach der Jahrhundertwende gebaut wurde, schien Kerstins Erwartungen an einen Diplomatenhaushalt zu entsprechen. Isabelle genoss die andächtige Stille, mit der ihre Mutter den Salon, das Wohnzimmer und das Esszimmer durchschritt und aus dem Erker raus in den Park sah. Eine Minute wirkte es, als genügte Isabelle den Ansprüchen ihrer Mutter, dann drehte sich Kerstin um und fragte: „Wo ist denn nun der Kühlschrank, Bella?“

Ich habe nie ganz verstanden, woher dieses Selbstbewusstsein kam. Meine Eltern hatten ein Haus in Frohnau, um das ich sie wirklich nicht beneidete, aber es gab da eine Garage mit drei Stellplätzen und ein überdachtes Schwimmbad. Kerstin wohnte in einem Plattenbau an der Greifswalder Straße, dritte Etage. Neunzig Prozent ihrer Nachbarn waren Rentner, und doch tat sie so, als lebte sie im Herzen der Prenzlauer Berger Boheme. Sie war seit zwei Jahren im Vorruhestand, wovon sie sich ausruhte, war nicht so einfach zu sagen. Sie war lange eine Muse gewesen, wenn ich das richtig verstanden hatte, zuletzt hatte sie in Teilzeit eine Tanzgruppe für Kinder aus schwierigen Verhältnissen in Weißensee betreut. Sie war seit fünfzehn Jahren in psychotherapeutischer Behandlung und redete darüber, als sei das eine Art Fortbildung. Sie gab den Namen des Vaters von Isabelle nicht preis, informierte uns aber von Zeit zu Zeit über den Kandidatenkreis. Maler, Musiker, Regisseure, die mir allesamt unbekannt waren. Sie erwähnte ab und zu Sartre und Simone de Beauvoir, aber ich hatte sie nie lesen sehen. Sie war sechzig Jahre alt und unterschrieb ihre Briefe und Nachrichten immer nur mit K, als wäre sie eine literarische Figur. Ich nahm an, ihr Name erschien ihr zu alltäglich, verglichen mit ihrem Temperament. Manchmal stellte sie sich als Catherine vor, manchmal als Chris.

  Nebenbei gesagt, entsprach sie ziemlich genau meinen Vorstellungen von einer Impfgegnerin, hatte aber bereits vor zwei Monaten ihren Boostershot bekommen. Von Annalena, wie sie sagte, offenbar eine Ärztin, sicher war das nicht. Isabelle jedenfalls kannte keine Annalena, wollte aber auch nicht fragen, weil sie die Geheimnistuerei ihrer Mutter hasste. Kerstin ließ gern Namen fallen, die niemand kannte, man musste ständig nachfragen. Für mich entsprach es dem Konzept aller ostdeutschen Erzählungen. Ich fühlte mich in ihnen wie in einem dunklen Märchenwald.

  Kerstin stand nun also in unserer Küche, öffnete einen Schrank nach dem anderen, um nach einer „Platte“ zu suchen, auf der sie ihre Sülze „anrichten“ konnte.

  „In Bulgarien isst man am Heiligen Abend kein Fleisch, Mama“, sagte Isabelle.

  „Wir sind doch hier praktisch auf dem Boden der Bundesrepublik, oder?“, sagte ihre Mutter, warf eine Schranktür zu und öffnete eine andere.

  Ihre Mitbringsel waren dazu da, die Ordnung zu stören. Zu unserem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest in Kreuzberg hatte Kerstin zwei Tetra Paks irgendeiner alkoholhaltigen Getränkemischung beigesteuert, die sie in unserer Küche aufwärmte. Es war grauenhaft, sehr süß und sehr hochprozentig. Weil meine Eltern das Zeug demonstrativ nicht anrührten, trank ich – ebenfalls demonstrativ – drei Tassen und konnte am Heiligen Abend keinen klaren Gedanken fassen. Ich war paralysiert. Durch einen Schleier nahm ich spöttische Aufforderungen von Kerstin wahr, nun doch auch mal etwas zu sagen.

  Die anderen Gäste fanden sie oft sehr amüsant.

Wir hatten Jan-Peter und seinen Freund Mark zum Heiligen Abend eingeladen sowie Debbie und Jerry. Jan-Peter leitete das Goethe-Institut Sofia, Debbie war eine Kollegin von der amerikanischen Schule, Mark und Jerry waren mitreisende Ehemänner wie ich. Es würde wieder nicht besonders christlich werden.

  Jan-Peter und Mark waren schwul, Debbie und Jerry jüdisch, Isabelle und Kerstin ostdeutsch. Ich befand mich in der Diaspora, sozusagen. Ich war in meiner Jugend Ministrant gewesen, hatte Isabelle aber standesamtlich geheiratet. Im Rathaus Pankow, weil das für Kerstin am bequemsten war. Die Brautmutter war in einem lila Samtkleid aus der 88er-Kollektion des „Mode Circus“ erschienen, dazu trug sie eine weiße Federboa und eine goldene Kappe. Die Leute auf dem Bürgersteig hatten sich nach ihr umgedreht, nicht nach Isabelle.

  Ich legte das Weihnachtsoratorium auf, trank einen Schluck Champagner und dachte daran, wie meine Eltern jetzt zur Christmette nach St. Hildegard aufbrachen, in Frohnau. St. Hildegard war keine beeindruckende Weihnachtskirche, verglichen aber mit unserem Sofioter Wohnzimmer, in das Kerstin gerade die Platte mit ihrer Berliner Schweinesülze trug, ein Dom.

  Immerhin roch es noch leicht nach dem bulgarischen Weihnachtsbrot, das Isabelle gebacken hatte. Pitka. Ein Hefezopf, in dem eine Silbermünze versteckt war. Wer sie fand, hatte Glück im nächsten Jahr.

  „Kannst du diese Musik ein bisschen runterdrehen, Tillmann“, sagte Kerstin und hielt, nachdem ich das gemacht hatte, eine kleine Rede, in der es zunächst um einen bulgarischen Geiger namens Gogow ging. Aber auch um den Goldstrand von Nessebar, den Kerstin offenbar vor 38 Jahren mit einem Begleiter namens „El Funki“ unsicher gemacht hatte, ihre vielversprechende Tochter Isabelle, „die heute die Möglichkeiten auslotet, die ich leider nie gehabt habe“, sowie die Arbeit an der Schweinesülze, die sie vor zwei Tagen in ihrer Berliner Küche begonnen hatte. Weder das Jesuskind noch ich spielten eine Rolle in der Weihnachtsbotschaft meiner Schwiegermutter. Dafür erfuhr die Gesellschaft, dass es in Berlin inzwischen fast unmöglich war, einen Schweinefuß zu bekommen. Kerstin stellte sich als Chris vor.

  Jan-Peter übersetzte die Rede leise für Debbie und Jerry ins Englische.

  Sie sahen sich an, verunsichert. Schweinefuß?

  „What do you need a pig foot for, Chris?“, fragte Jerry.

  „Man kocht ihn aus, damit es schön geliert“, erklärte Kerstin.

  „For gelling“, sagte Jan-Peter.

  „Es ist das Bindegewebe“, sagte sein Lebensgefährte Mark, der fünf Semester Medizin studiert hat, aber das übersetzte Jan-Peter nicht. Debbie sah unsicher auf die Sülze, die in der Mitte des Tisches stand wie eine Opfergabe.

„Es gibt aber sonst ausschließlich bulgarisches Weihnachtsessen“, sagte Isabelle. Reisgefüllte Weinblätter, Bohnensalat, Pitka. Und zu Deb und Jerry gewandt: „No meat. No pork.“

  „Schopska!“, rief Kerstin.

  Sie hatte in letzter Minute, als sie die traditionellen kleinen Gerichte gesehen hatte, die hier am Heiligen Abend serviert wurden, entschieden, noch eine eindeutige Note hinzuzufügen, den Schopskasalat. Das war alles, was sie von Bulgarien kannte, mal abgesehen von dem bulgarischen Geiger und von „El Funki“, einem Köpenicker Maler mit einem, wie sie, während sie Zwiebeln hackte, erklärte, „Riesenpinsel“.

  Kerstin fand dann die Silbermünze im Glücksbrot. Ein 2-Lewa-Stück aus dem Jahr 1891, Kurswert 15 Euro. Ich hatte es über Ebay organisiert. Kerstin lächelte, als habe sie damit gerechnet.

  „Was wünschst du dir, Chris?“, fragte Mark.

  „Ein Enkelkind“, sagte Kerstin.

  Ich aß von ihrer Schweinesülze und stopfte Weihnachtsbrot und Schopskasalat in mich hinein, um ein guter Sohn und Schwiegersohn zu sein. Wir tranken alle schnell, um zu vergessen, wie fremd wir uns waren. Jan-Peter würde irgendwann zu seiner Standardrede ausholen, in der er sich beklagte, dass die schwulen Mitarbeiter des Goethe-Instituts immer in die beschissensten Länder geschickt wurden. Er hatte bereits fünf Jahre Nigeria hinter sich. Ohne Mark. Die beiden Männer hingen Kerstin an den Lippen, die vom „Mode Circus“ erzählte und von El Funkis Pinsel. Ich hörte das Kichern von Jan-Peter. Nach dem Essen trug ich die Teller in die Küche, stellte etwas von dem feinen Rotwein auf den Tisch, den Mark und Jan-Peter bei jungen bulgarischen Winzern im Süden gekauft hatten.

  Kerstin beobachtete mich aus dem Augenwinkel und fragte: „Gibt’s och Kadarka?“

  Ich lächelte sie ahnungslos an und ging mit Jerry auf den Balkon, um einen Joint zu rauchen.

  „Your mother in law“, sagte Jerry und blies den Rauch in die Nacht.

  „Yes?“, sagte ich und zog meinerseits.

  „She’s a character“, sagte Jerry.

  „Couldn’t agree more“, sagte ich und dann bekam ich plötzlich einen Lachanfall. Ich dachte an meine Eltern, die in dieser Kirche in Frohnau, die aussah wie ein Ausflugslokal von Neonazis, „Kommet Ihr Hirten“ sangen, an den ehemaligen saarländischen Außenminister, der jetzt jeden Morgen seiner Frau die Lage der Uiguren und Ukrainer beim Frühstück erklärte, an die Schweinesülze und den bulgarischen Fußballer, der das Tor gegen die Deutschen geschossen hatte, als ich noch ein Kind war, in Hamburg. Ich hatte, im Sommer ’94, einen Abend lang geweint, weil die deutsche Mannschaft aus dem WM-Turnier geflogen war, durch das Tor eines glatzköpfigen Bulgaren, der für meinen Lieblingsverein spielte, den HSV. Ich verstand das einfach nicht, es war eine Ungeheuerlichkeit, und mein Vater, der damals schon in Berlin arbeitete, konnte mir das nicht erklären. Ich kam nicht auf den Namen des Hamburger Bulgaren. Ich lachte immer noch, weil ich den Eindruck hatte, dass der alles zusammenhielt. Mich und Sofia. Ich war ganz kurz davor, das Welträtsel zu knacken. Ich sah Jerry an, dass es ihm ähnlich ging. Sein Gesicht war ganz nass. Pig foot.

  Jerry kam aus Albuquerque, New Mexico, und arbeitete seit zehn Jahren an einem Buch über den Wasserrückgang im Colorado. Ich hatte nie richtig verstanden, wie er das hier in Bulgarien hinbekommen wollte, und ich glaube, er wusste es auch nicht so genau. Es war gar nicht wichtig. Ich war ja auch kein Lehrer, nur Deutscher.

  Als wir wieder zu den anderen gingen, beendete Jan-Peter gerade seine Klage über das homophobe Goethe-Institut.

  „Nach Paris oder San Francisco kommst du nur mit Kindern“, rief er.„Haste gehört, Tillmann“, rief Kerstin zu mir. „Kinder!“

  Ich sah zu Isabelle, die sah auf ihre Serviette. Ich hatte eine Antwort parat, aber als ich den Mund öffnete, war sie weg. Dafür fiel mir ganz plötzlich der Name des bulgarischen HSV-Spielers ein, der 1994 die deutsche Nationalmannschaft aus der WM geschossen hatte. Jordan Letschkow. Auch gut.

  „Letschkow“, sagte ich.

  Alle sahen mich an.

  „Es heißt Letscho“, sagte Kerstin.

  „Was?“, sagte ich.

  „Letscho. Ohne W. Schweinesteak mit Letscho zum Beispiel“, sagte meine Schwiegermutter. Mark übersetzte für Deb und Jerry.

  Ich hätte das Missverständnis gern aufgeklärt, aber das erschien mir nicht möglich, es war alles zu groß geworden. Ich schwieg erst mal. Jerry flüsterte Deb irgendwas ins Ohr, sie zuckte mit den Schultern, Isabelle räumte leere Flaschen raus, und Kerstin schloss mit Marks Hilfe ihr Handy an unsere Lautsprecherbox. Sie wirkten beide ziemlich betrunken, bekamen es aber hin.

  „So“, rief Kerstin. „Georgi Gogow. Der Teufelsgeiger.“

  Man hörte aber keine Geige, man hörte Gitarren, ein Schlagzeug und eine heisere Stimme. Es klang wie das Gegenteil eines Weihnachtsliedes, wenn es denn so etwas gab. Kerstin hob einen Arm und sang den Refrain: „Und in seinen Gedanken ist er der King vom Prenzlauer Berg.“

  Als es vorbei war, zog eine angenehme Stille ein, in die Kerstin rief: „Dit meinte ick aber nich.“

  Sie fummelte an ihrem Telefon, schließlich fand sie ein Lied mit Geige, das mir auch bekannt vorkam. Es hieß „Am Fenster“, war sehr lang und wirklich ganz schön, auch wenn der Text mir völlig rätselhaft war. „Klagt ein Vogel, ach auch mein Gefieder, nässt der Regen, flieg’ ich durch die Welt.“

  Alle tanzten, ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Isabelle Schnapsgläser mit Mastika füllte, dem bulgarischen Anisschnaps. Der Rausschmeißer. Morgen war auch noch ein Tag.

  „Auf Isabelle!“, rief Kerstin, als das Lied endlich vorbei war. „Flieg ich durch die Welt!“

  Wir hoben unsere Gläser. Isabelle lächelte, trank aber ihr Glas nicht aus. Kerstin holte Luft und ich dachte, dass sie uns nun endlich verraten würde, wer Isabelles Vater war. In der Heiligen Nacht von Sofia. Der Teufelsgeiger? El Funki? Heiner Müller? Aber sie erzählte dann nur, dass sie ihre Tochter nach Isabelle Huppert benannt hatte. Immerhin war auch das neu für mich. Isabelle wurde ein bisschen rot.

  „Die Spitzenklöpplerin“, sagte Kerstin und lächelte.

  Es war sicher eine bedeutende Anspielung, aber ich verstand sie nicht. Ich begriff allerdings, dass ich den Namen meines Schwiegervaters nie erfahren würde. Es war Teil des Spiels. Der Familienaufstellung. Der Weihnachtsgeschichte. Es war Kerstins Krippenspiel.

„Ich glaube, ich bin schwanger, Till“, sagte Isabelle, später, als wir wieder allein waren. Sie weinte, obwohl es ja eine gute Nachricht war. Ich sah sie an, tausend Fragen im Kopf. Zunächst überlegte ich, wann wir eigentlich zuletzt miteinander geschlafen hatten. Ich konnte mich nicht an bulgarischen Sex erinnern, aber ich war auch ziemlich hinüber. Der Wein, die Schweinesülze, der Joint, der Ostrock, Mastika. Dann dachte ich an Henning Hoffmann, den Schönling aus der Konsularabteilung, und an den Erzengel Gabriel. Gleichzeitig. Henning Hoffmann mit Flügeln. Klagt ein Vogel, ach auch mein Gefieder, nässt der Regen.

  Vielleicht war ich Josef in dieser bulgarischen Weihnachtsgeschichte. Der Zimmermann aus Judäa. Der mitreisende Ehemann Marias. St. Josef, am Ende. Vielleicht war das meine Rolle. Damit könnten auch meine Eltern leben, dachte ich. In Frohnau.

  „Das Glücksbrot hat funktioniert“, sagte ich.

  Ich sah auf Isabelles Bauch. Ich dachte daran, ihn zu berühren, wagte es aber nicht.

Bücher: Hermann Hesse: “Weihnachten”

Foto: Jabs

Foto: Jabs

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Nach den Feiertagen las ich noch mal die berührenden Gedanken Hermann Hesses in dem kleinen Insel Taschenbüchlein “Weihnachten” nach.
In der Einleitung heißt es: “Je älter Hermann Hesse wurde, desto mehr distanzierte er sich von der geschäftstüchtigen Rührseligkeit, die mittlerweile das “Fest der Liebe” bestimmt.”
Zwei Gedichte:
Schenken
Schenken und beschenkt zu sein,
Freut den alten Knaben.
Wie der Atem aus und ein
Gehen Dank und Gaben.
(1959)
 
Neujahrsblatt ins Album
Jedem Tag ein kleines Glück
Ohne Sorge abgewinnen,
Jeden frohen Augenblick
In das goldene Netz zu spinnen
Heiterer Erinnerung.
Jede Stunde sich im Glanze
Reiner Gegenwart versenken,
Dennoch auf das schöne Ganze
Immerfort den blick zu lenken –
Wer’s vermöchte, bliebe ewig jung.
(1900)