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Foto: Jabs

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Eine Seite aus “Das Kuckucksnest”, der diesjährigen Weihnachtsgeschichte Alexander Osangs:

 „Schafft Tanita denn das alles neben ihrem Studium und den Filmsächelchen?“, sagte Anna.

„Im Gegenteil, Anna, all die Geschichten von den traumatisierten syrischen Flüchtlingen, die Tani mit nach Hause bringt, das ist wie Feldarbeit zu ihrem Psychologiestudium. Das ist anders als bei, sagen wir mal, Zahnärzten.“

„Ich dachte nur, weil sie beim letzten Mal so abgekämpft aussah, Betty“, sagte Anna.

„Sie ist nur nicht so dick und zufrieden wie …“, sagte Bettina.

„Ich war ja gerade mit der Ministerin an der syrischen Grenze“, sagte Frank.

„Wenn es so weitergeht, wirst du mit deiner Ministerin bald in Syrien sein“, sagte Max. „Im Schützenpanzerwagen.“

„Es wird keine Bodentruppen geben mit uns“, sagte Frank.

„Ich weiß nicht, ob das nicht ehrlicher wäre“, sagte Max.

„Den Krieg spüren, was? Du kannst ja schon mal losfahren, Hemingway“, sagte Frank.

„Meine Zeitung konzentriert sich eher auf den Berliner Markt, wie du weißt. Du kannst mir später auf eurer Datsche deine Kriegserinnerungen diktieren, Molotow“, sagte Max.

„In Wildau“, sagte Anna, mit ihrer Augenbraue kämpfend. Katarina stellte sich vor, wie ihr Gesicht zerriss, aufsprang. Sie konnte sich nicht vorstellen, was darunter zum Vorschein kam.

„Manchmal denke ich, das hängt alles miteinander zusammen“, sagte Bettina.

„Was?“, fragt Katarina.

„Das, was Tanita und Frank machen“, sagte Bettina.

In dem Moment verschluckte sich Boris, hustete und prustete ein bisschen Fischsuppe über den Tisch. Er konnte gar nicht mehr aufhören, seine Augen tränten. Katarina schlug ihm auf dem Rücken, er sah sie aus den Augenwinkeln an. Es schien ihr, als habe er einen Lachanfall.

„Die Fischsuppe ist übrigens ausgezeichnet“, sagte Anna. „Ich weiß gar nicht, wie du das immer alles schaffst.“

Die anderen nickten. Es war die Ebene, auf der sie Frieden schließen konnten. Eine Hochebene. Das Schlachtfeld der Versehrten. Boris schnaufte neben ihr, sein kariertes Hemd war ein bisschen mit Fischsuppe bekleckert. Sie berührte ihren Mann am Bein. Er sah sie an, lächelte. Tani und Franki und die ganze Welt. Konnte das sein? Hatte er wirklich über Bettinas absurde Weltsicht gelacht? Wie schön das wäre, dachte Katarina.

Was macht eigentlich die Fernsehserie über die Sprinterinnen, fragte sie Anna. „The winner takes it all?“

„Ach, die deutschen Anstalten reden die ganze Zeit von den wunderbaren amerikanischen Serien. Aber wenn wir dann mal eine Idee dafür haben, verhindern sie sie“, sagte Anna. Das Gesicht weiß und starr wie eine Halloween-Maske. „Wir machen jetzt was über das Interhotel Neptun in den Achtzigern. Die Möbel da, die Gäste, die Orgien, die Stasi, Barschel. Das schreibt sich von allein. Im Soundtrack Aha, Spandau Ballett und Duran, Duran. Netflix sucht diese Stoffe.“

„Oder du fragst diesmal Claire Danes“, sagte Boris.

Sie sahen ihn an, als sei er über Wasser gewandelt. Katarina fragte sich, ob es wieder nur die Stimme in ihrem Kopf war. Der Spötter Boris, der dort überlebt hatte. Aber Boris schien alle Zweifel ausräumen zu wollen.

„Tanitas Freundin. Carrie“, sagte er. „Carrie Mathison. Sie ist doch sowieso in der Stadt.“

„Boris sieht ‚Homeland‘“, sagte Max.

Zu meiner Schulzeit hätte ich für diese Schreibweise sicherlich eine schlechte Note für den Ausdruck bekommen. 

Bei einem modernen Schriftsteller gilt das vielleicht als künstlerisches Mittel…