Bücher: Matthias Brandt “Blackbird”

Foto: Jabs

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Selten hatte ich so viel Wonne beim Lesen!
Matthias Brandt ist nicht nur ein herausragender Schauspieler, der Mine versteht es auch, faszinierend zu schreiben.
Er brilliert mit einer wunderbaren Beschreibung des Alltags eines 15-jährigen Schülers. Immer wieder fühle ich mich an die eigene Schulzeit erinnert. Der Autor trifft mit seinen Bemerkungen die Gefühlswelt der Jugend in den 70er/80er-Jahren vorzüglich! “Eine Krawatte ist ein Reisepass für Arschlöcher.” Seine Sprache widerspiegelt diese Zeit präzise. Damals angesagte Sprüche, Schlagwörter, Schimpfwörter finden Widerhall. Witzige Spitznamen: Pattex, Neandertal-Klaus – alles ist stimmig.
Schön empfand ich auch, dass ein Faksimile eines Liebesbriefes gedruckt im Buch erscheint. (Siehe oben.) Ja, selbstverständlich geht es bei den Halbstarken immerfort um die Liebe – die erste, die große. Brandt bearbeitet dieses herrliche Thema gebührend ausführlich: Ein Höhepunkt in “Blackbird”. “Küssen war, als ob ich eine Sprache zwar nicht konnte, mich aber von jetzt an nur noch in ihr unterhalten wollte.” Vieles dreht sich um eherne Freundschaften, wenig um die Schulstunden in einem Kleinstadtgymnasium. Die Beschreibung der Rauschgifterlebnisse lässt auf einschlägige Erfahrungen schließen. (Siehe oben.) Die Wichtigkeit der Popmusik in der Pubertät wird vollkommen richtig eingeschätzt. Berührend und spannend führt der Roman zum Ende, zu einer Beerdigungsszene. (Der Romanheld, ein Freund der Worte, findet den Begriff “Trauerfeier” völlig unpassend.)
(Musik, die sich der Verstorbene im Buch wünschte:
Der Schlusssatz ist unschlagbar: “Der Tropfen an Steffis Kinn wurde immer größer, und als er runterfiel, spiegelte sich in ihm die ganze Welt.
Brandts Schreibstil verstehe ich in der Einfachheit, in seiner Klarheit als mehr denn angenehm, nämlich als erfrischend witzig. (In einigen Kapiteln stört mich die ständige Wiederholung der Vorvergangenheit in Form von “war gewesen”.) Inhaltlich begeisterte mich eine stringente Handlung und immer nachvollziehbare Gedanken. “Blackbird” ist wahrlich leicht zu lesen und bereitete selten erlebten Literaturgenuss!

Fotografie, Kunst: Ulrich Wüst

Foto: Ulrich Wüst

Foto: Ulrich Wüst

Ulrich Wüst fotografierte einige Seiten aus dem NVA-Kalender eines gewissen H. G. Dieses Bild (eine Postkarte) ist für mich ein Beispiel für intelligente Fotografie – Man muss hinsehen!

NVA: Abk. für Nationale Volksarmee der DDR

Bücher: Ein ungewöhnliches Faschingskostüm

Foto: Jabs

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Matthias Brandt in “Blackbird”:

“Im Bus dachte ich darüber nach, seit wann Bogi und ich eigentlich befreundet waren. Wahrscheinlich seit dem Tag, als er – Weiberfastnacht durften wir an der Grundschule immer kostümiert zur Schule kommen – in einem roten Schlafanzug mit goldenen Querstreifen über der Brust vor mir auf dem Schulhof gestanden hatte, eine gelbe Wollmütze auf dem Kopf, an die grüne Spülschwämme genäht gewesen waren. Ich hatte ihn gefragt, was sein Karnevalskostüm darstelle, und er hatte geantwortet: Ausgelaufene Batterie.'”

Bücher: “Giovannis Zimmer”

Foto: Jabs

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Ein Buchtipp:
Der sprachlich brillante große Roman “Giovannis Zimmer” von James Baldwin ist eine hinreißende Liebesgeschichte, die wohl zum Literaturkanon des 20. Jahrhunderts gehört. Ein in der Zeit seines Erscheinens (1956) mutiges Werk eines grandiosen Dichters, das vieles aus dem Leben Baldwins spiegelt.
Meine Quintessenz: Das Geschenk, das der Schriftsteller allen Lesern macht, könnte Selbsterkenntnis sein.
Zitate:
“Niemand kann im Garten Eden bleiben. … Warum eigentlich nicht?”
“Vielleicht ist zu Hause gar kein Ort, sondern ein unwiderruflicher Zustand.”
“Ich erkannte und akzeptierte zum ersten Mal, dass Liebe mehr ist als eine allen Menschen gemeinsame Möglichkeit, mehr ist als das Unheil, … und auch mehr als nur lebensgefährlich: sie war auch meine Möglichkeit, und hier war nun, atmend und rülpsend neben mir, und sie war der Schlüssel zum Leben.”

Diverses: “geil”

Foto: Jabs

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Sprache entwickelt sich.

Eine interessante Wortgeschichte: Im Althochdeutschen hatte das Wort keine sexuelle Bedeutung, sondern wurde im Sinne von “übermütig, überschäumend, fröhlich” verwendet. Seit dem Zeitalter der Renaissance wurde es im botanischen, agrarischen Bereich für “üppiges Wachstum” gebraucht. Saftige Pflanzen nannte man damals geil. Erst im 19. Jahrhundert wurde das Wort ein Synonym für “lüstern, unkeusch, triebhaft”, es mutierte zu einen schlüpfrigen Begriff. Im Zuge der sexuellen Revolution der 1970er-Jahre wurde das Adjektiv wieder aufgewertet – sexuelle Tabus brachen auf. Man konnte das Wort wieder in den Mund nehmen. Vorreiter war die Jugendsprache. So vieles wurde “geil” gefunden. Es verlor seinen zunächst leicht provozierenden Charakter und seine sexuelle Bedeutung vollends. Heute findet mein fünfjähriger Enkel Winnetou total geil.