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Bücher, Fotografie: Grit Thönnissen im Tagesspiegel vom 16.10.2021: “Thea”
Bücher, Fussball: Moritz Rinke: “Die Wahrheit über Polter”
MORITZ RINKE
„DIE WAHRHEIT ÜBER POLTER“
Als ich vor vielen Jahren begann, zu stürmen, wusste ich noch nicht, für welche existenzielle Lebensform ich mich entschieden hatte. Ich war jung und kannte Gerd Müller, Wolfgang Overath, Manni Burgsmüller, Horst Hrubesch oder Karl-Heinz Rummenigge, aber ich wusste nicht, was in ihnen vorging, was diese Stürmer im Innersten zusammenhielt.
Von außen bewunderte ich bei Müller die Beweglichkeit, bei Overath die Technik, bei Burgsmüller den Spielwitz und bei Rummenigge die Dribblings, mit denen man heute vermutlich nicht mal mehr an einer Verteidigerin von Turbine Potsdam vorbeikäme. Hrubesch machte mir Mut. Dass man mit nur einer einzigen Fähigkeit, quasi ohne wirklich Fußball zu spielen, sogar Nationalstürmer werden konnte! Ich spielte mich durch sämtliche Kreisligen, Bezirksligen bis zur Verbandsliga in einer hochverdünnten Mischung aus Burgsmüller und Müller und galt, das darf ich heute mit Stolz sagen, als niedersächsisches Stürmertalent, als Bomber von Worphausen, später Worpswede, inklusive Probetraining bei Preußen Münster, 2. Liga, bis ich nach einem Trainerwechsel plötzlich auf der Bank saß, im Pokal gegen Osterholz-Scharmbeck.
Ich würde nicht genug nach hinten arbeiten, sagte der Trainer und zerstörte mein bisheriges Leben. Ein Bomber arbeite nicht nach hinten, entgegnete ich, aber Widerspruch gab es in Dorfvereinen nicht.
Als ich wieder eine Chance bekam, auswärts beim FC Wilhelmshaven, arbeitete ich wie ein Irrer nach hinten, bis mich der Vorstopper, den gab es damals noch, anraunte, was ich hier denn auf seiner Position machen würde. Und der Trainer setzte mich wieder auf die Bank mit der Begründung, ich hätte kein Tor geschossen, schlimmer noch: Ich hätte in der einen Situation vor dem Tor querlegen müssen, und dass wir keinen Punkt aus Wilhelmshaven mitgenommen hatten, sei einzig und allein meine Schuld. Damit war meine Psyche im Arsch beziehungsweise es wäre besser gewesen, wenn sie sich da von vornherein wirklich befunden hätte, denn Tore erzielt man als Stürmer sinnbildlich besser mit dem Hintern, als mit dem Kopf, der immer zu lange nachdenkt, soviel weiß ich heute.
Seltsamerweise musste ich genau an meine Zeit als Jugendstürmer denken, als ich den Union-Stürmer Sebastian Polter bei einem Heimspiel beobachtete. Zuerst fand ich ihn gar nicht, ich sah ihn als allererstes an der Außenlinie, tief in der eigenen Hälfte. Er verteidigte, es sah bemüht aus. Polter: ein Baum, ohne Blätter. Typ Carsten Jancker, 90er Jahre. So eine Art Wandstürmer, ganz anders als ich, der immer hart an der Abseitslinie tänzelte wie später Filippo Inzaghi. Als Polter in der 5. Spielminute, gut eingesetzt von Felix Kroos, auf den gegnerischen Schlussmann zulief, seinen Sturmlauf vom Innenverteidiger leicht abgedrängt nach rechts verlagerte, sprang ich auf. Links von ihm war Kenny Prince Redondo mitgelaufen, Polter hätte querlegen müssen, wie ich damals in Wilhelmshaven hätte querlegen müssen, doch Polter schoss. Der Torwart war nicht sonderlich überrascht, der Winkel war zu verkürzt, die Chance vergeben. Für mich war sofort klar: Dieser Polter hatte bestimmt einen ähnlichen Dorftrainer gehabt wie ich und er stand unter Druck wie ich in Wilhelmshaven. Ein Stürmer, der nicht unter Druck steht, spielt in so einer Situation ab oder er ist blind.
Man möchte am liebsten von der Tribüne steigen und zu dem Stürmer laufen und sagen: Junge, ich weiß genau, was in dir vorgeht! Du hast bestimmt auch seit 4 mal 90 macht 360 Minuten nicht mehr getroffen! Oder du denkst wahrscheinlich, dass du nur noch spielst, weil die anderen Stürmer noch nicht fit sind und darum wolltest du eben unbedingt treffen, dabei hättest du wie ich in Wilhelmshaven querlegen müssen, guck dir das bloß nicht in der Wiederholung an! Denk einfach an Miroslav Klose, den Weltmeister, der war schon 990 Minuten ohne Tor, Thomas Müller noch länger, sogar Lewandowski, der Universalstürmer, kennt das, alle! Die Seele eines Stürmers kann sich schneller verdunkeln als der Himmel und schneller als die aufgewühlte See. Und die Dunkelheit und diese schrecklich finstere Torlosigkeit, die von außen in den Stürmer hineingetragen und hineingeschrieben wird, ist ein schleichendes, schwarzes Gift für uns, komm in meine Arme, Polter, ich glaub an dich.
Ja, in der Torlosigkeit eines Stürmers liegt die Wahrheit und die Seele der wahren, der guten, der besten Stürmer. Man kann Torinstinkt haben und ein Antizipationsstürmer sein. Man kann ein flankenabnehmender, kopfballstarker Stoßstürmer sein wie Polter. Man kann eine hängende Spitze oder eine falsche Neun aus der Tiefe sein wie Mario Götze, falls den noch jemand kennt. Man kann aber auch eine klassische Neun sein, ein Außenstürmer, ein Halbstürmer oder Verbindungsstürmer oder Mittelstürmer oder Zentralstürmer; man kann Pizarro, Fernando Torres, Messi, Aubameyang, Robben, Rooney, auch, ja, Ronaldo heißen usw. – wenn du aber nicht verdammt noch mal die 1000prozentige Umarmung und den Glauben des Trainers und der Mannschaft spürst, dann hilft alles nichts, dann vergesst es, lasst es, ja, so geht man nicht mit Stürmern um und setzt sie im Pokal gegen Osterholz-Scharmbeck einfach auf die Bank! Fragt stellvertretend Gomez, als er bei Bayern und Wolfsburg auf der Bank schmorte, vor sich hindörrte und dann, kaum da man ihn wieder liebte, aufblühte und danach traf und traf und immer noch trifft, da man ihn und seine Seele umarmte. Natürlich sollst du alle im Team umarmen, aber umarme den Stürmer immer ein bisschen länger, denn die Höhen und Tiefen zwischen einem Torerfolg und der schrecklichen Torkrise, der vergebenen Chance, der Hundertprozentigen, der Todsicheren – sie verdunkeln die Seele des Stürmers wie sie vielleicht nur noch die Seele des Torwarts verdunkeln können. Torhüter und Stürmer sind die Figuren des Künstlerdramas im Fußball.
Helmut Schulte, der Sportdirektor, den man bei Union den Leiter der Lizenzabteilung nennt, sagte mir bei einem Frühstück in Charlottenburg: »Wenn du zu viele Stürmer holst, wirst du als Verein vielleicht trotzdem weniger Tore schießen. Stürmer sind so, dass du sie manchmal untereinander verstecken musst, damit jeder denkt, er sei der einzige, gerade bei einem 4 : 2 : 3 :1-System, wie wir es gerade oft spielen.«
Leider gab es so einen wie Schulte damals in meinem Dorfverein nicht, da wollte jeder stürmen.
Polter erzielte dann übrigens noch das spielentscheidende 2:1, natürlich mit dem Kopf. Im nächsten Heimspiel flog er dann vom Platz. Er foulte den Sechser vom SV Sandhausen rüde, völlig unnötig und wieder irgendwo, vermutlich nach hinten arbeitend an der Außenlinie. Es war ein ungeschicktes, unstürmerisches, ja, ein fehlgeleitetes Foul. Daran ist meines Erachtens natürlich sein und mein Dorftrainer schuld.
Im nächsten, im wichtigsten Spiel der Saison bei Eintracht Braunschweig soll dann für den gesperrten Polter Philipp Hosiner auflaufen, kein Stoßstürmer wie Polter, eher ein Kombinationsstürmer, der eigentlich als Nummer eins für Bobby Wood im Sturm zu Union gekommen war, sich verletzte, wodurch ihn Quaner ersetzte, bis dieser verkauft und als neuer erster Stürmer Polter für viel Geld aus England geholt wurde. Und nun also wieder Hosiner im Stürmerkarussell. »Gelingt es ihm, Polter zu ersetzen, hat seine Mannschaft in Braunschweig eine realistische Chance. Hosiner traf bisher alle 131 Minuten, Polter alle 204 Minuten.«, schreibt der Tagesspiegel am Vortag des Union-Finales. So etwas liest natürlich auch Polter, der eigentlich für einen Stoßstürmer sehr feine Gesichtszüge hat, wie ich in der Mixed Zone beobachtete. Und wenn Hosiner Polter nun tatsächlich in Braunschweig »ersetzen« und Union in die Erste Liga oder in die Relegation schießen sollte – wir wissen jetzt, dass es nicht dazu kam – dann würden alle in Berlin jubeln. Außer die Hertha vielleicht – und Polter. Man würde ihm das nicht ansehen, aber im Innersten Polters, da wüsste ich, was vor sich geht. Keiner wird gerne ersetzt, ganz besonders nicht Stürmer. Wir Stürmer sind nun mal was Mentales.
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»Was denn?«
»Das klingt, als würde jemand summen.«
»Das ist der Wind.«
»Seit wann kann der Wind eine Melodie summen?«
»Er summt eine Melodie?«, schnaubt Paul. »Was sollte das denn für ein Lied sein?« Aber jetzt hört er es auch. Es
klingt wie We Are the World. »Es ist dieses Charity-Lied«, sagt Sarah. »Nicht das von Bob Geldof. Das andere, das
amerikanische.«
Paul steht auf und zieht sich an.
Die Fliesen auf der Dachterrasse sind vereist, und Paul rutscht beinahe aus, als er hinter sich die Tür zuzieht. Von
ihrer Wohnung aus kann man den Fußballplatz überblicken und von der Dachterrasse aus einen Teil der
Leuchtschrift sehen: SENAL FOOT. Weder Paul noch Sarah sind Fußballfans, aber es ist nicht schlecht, so nahe am
Stadion zu wohnen, und noch dazu so hoch. Die Erregung scheint sich irgendwie auf das ganze Viertel zu
übertragen, und früher kam ihnen die Leuchtschrift vor wie ein vollendeter Ausdruck urbanen Lebensgefühls, so
ähnlich wie die rosa Neonreklame, die im Film Fame einem Darsteller ins Schlafzimmer scheint.
Ein Blick nach unten verrät Paul, dass die Straße zwischen der Wohnung und dem Stadion leer ist. Der Wind treibt
zerfetzte Zeitungen und zerrissene Programmhefte vom Nachmittagsspiel hoch in die Luft. Er kann sich nicht
erinnern, dass es in London schon einmal so kalt war.
Das Summen hört auf.
direkt unter der Regenrinne befestigt ist, hilft sie ihm nicht, das Dach zu erkunden, sondern blendet ihn und
behindert die Sicht. Trotzdem kann er deutlich erkennen, dass da oben ein Mann sitzt. In Decken gepackt, trinkt er
aus einem Plastikbecher ein dampfendes Getränk. Paul kann nicht sagen, ob der Mann ihn ansieht oder nicht, aber
er vermutet es, denn die Dachterrasse ist wie eine Bühne beleuchtet, und das Dach darüber ist dunkel wie der
Zuschauerraum während einer Vorstellung.
»He, kommen Sie sofort da runter!«, schnauzt Paul. Der Mann antwortet erst einmal nicht, aber Paul kann sehen,
dass er den Kopf schüttelt.
»Nicht, solange er nicht die Mannschaft verstärkt hat.«
»Wer?«, fragt Paul. Aber sofort wird ihm klar, dass es die falsche Frage war, denn nun wird das Gespräch zu den
Bedingungen des Mannes ablaufen.
Die in Decken gehüllte Gestalt deutet zum Stadion hinüber. »Der da«, schreit er. »Der alte Geizkragen. Der sitzt auf
dem Geld. Ich habe genug davon. Das ist das dritte Jahr hintereinander, dass wir kein ordentliches Mittelfeld
haben.«
Während Paul versucht, sich eine gute Antwort auszudenken (sein Mund steht offen, und er spürt den eiskalten
Wind an den Füllungen), wird der Vorhang des Schlafzimmerfensters zurückgezogen, und Sarahs Gesicht erscheint.
Paul zuckt verlegen mit den Achseln.
Fußball. Er bewegt den Mund so, als würde er es ihr lautlos zurufen. Sarah verzieht das Gesicht, um ihm zu
vermitteln, dass sie ihn nicht verstanden hat.
Fußballfan, versucht Paul es etwas ausführlicher, aber Sarah versteht ihn immer noch nicht.
»Mit diesen beiden Eseln, die müde das Feld rauf- und runterstolpern, werden wir nie die Meisterschaft gewinnen«,
erklärt der Mann laut genug, um das Unwetter zu übertönen. »Keine Kreativität, keine Ausstrahlung. Und keiner
der beiden ist schnell genug, um das Ding in die Kiste zu bringen.« Paul wünscht, er hätte die Sportberichterstattung
etwas aufmerksamer verfolgt. Er hat sich schon immer seiner Fähigkeit gerühmt, mit jedem Menschen reden zu
können, aber jetzt, bei diesem Gesprächspartner, scheint ihn seine zehnjährige Erfahrung mit
Personalangelegenheiten im Stich zu lassen. Er kann sich nur noch an eine Zeitungsschlagzeile erinnern, die er
neulich in der U-Bahn gesehen hat – KAUF JETZT EIN, GEORGE -, aber er weiß nicht, was das zu bedeuten hat
und wie es als Grundlage für ein Gespräch dienen könnte. Und überhaupt sollte er besser über das Problem
sprechen, dass dieser Mann auf seinem Dach sitzt, und nicht über die langfristigen Aussichten des Fußballclubs
gegenüber.
»Das ist nicht wirklich mein Problem, oder?« Normalerweise klingt Pauls Stimme immer nach einer bewährten
Mischung aus Freundlichkeit und höflicher Durchsetzungskraft, aber das schafft er unter diesen schwierigen
Bedingungen natürlich nicht.
»Das habe ich auch nie behauptet.«
»Nein, aber Sie sitzen auf meinem Dach herum.«
»Das mag sein, aber ich bin nun mal nicht auf die Osttribüne gekommen, und das hier ist das Zweitbeste. Ich störe
Sie doch nicht, oder?«
So langsam wird Paul wütend, aber er ist sich nicht ganz im Klaren, wie er dieses Gefühl deutlich machen soll, weil
er sowieso schon schreit. »Natürlich stören Sie uns! Glauben Sie denn, ich komme jede Nacht hier heraus und
schaue nach, ob irgendein Idiot auf meinem Dach kampiert?«
Der Mann antwortet nicht sofort. Sie starren einander einen Augenblick an und lauschen dem Sturm.
»Wie haben Sie mich denn überhaupt bemerkt?«, fragt der Mann.
»Das Dach hat geknarrt. Und Sie haben gesummt. Es hat geknarrt und gesummt.«
»Das mit dem Summen tut mir leid. Ich wollte mich selbst nur etwas aufmuntern. An das Knarren werden Sie sich
schon gewöhnen.«
»Ich will mich aber nicht an das Knarren gewöhnen«, schreit Paul. »Warum sollte ich mich an das Knarren
gewöhnen?«
»Weil ich nicht herunterkomme. Nicht, solange er nicht einen neuen Mittelfeldspieler gekauft hat. Roy Keane zum
Beispiel. Der ist noch jung.«
Paul bleibt auf der Terrasse stehen, bis er sicher ist, dass ihm nichts mehr einfallen wird. Dann geht er wieder zu
Bett.
Der Mann hat recht. Sie gewöhnen sich an das Knarren. Sie gewöhnen sich auch an andere Dinge. Etwa daran, für
drei Leute zu kochen und zu beobachten, wie Brian auf dem Hosenboden abwärtsrutscht, um sein dampfendes
Essen in Empfang nehmen zu können, oder auch an den Anblick ihrer Fotos in der Sun und im Daily Mirror und sogar im Guardian. Die Fotografen entdecken, dass sie zu dritt auf ein Bild passen, wenn Paul und Sarah sich an die
Wand lehnen, während Brian über ihnen sitzt und ein riesiges Spruchband mit einer kaum leserlichen Botschaft
schwenkt. Die beiden haben sich für diese Fotos eine Art leicht verwirrtes, aber geduldiges Lächeln zugelegt, und im
Mirror zeigt Sarah sogar ein Was-will-man-machen-Achselzucken, das sie selbst recht entzückend findet.
Sie haben sich auch an den ständigen Umgang mit den Polizisten gewöhnt. Die machten einen halbherzigen
Versuch, Brian zu überreden, seinen Posten zu verlassen, worauf er sich das steile Dach bis zum Schornstein hinauf
zurückgezogen hat und die Polizei ihnen den Rat gab, es für ein paar Tage dabei zu belassen.
Er stört sie tatsächlich nicht mehr. Sie haben es sich gegenseitig nicht eingestanden, aber insgeheim genießen sie die
Aufregung, die Brian in ihr Leben gebracht hat, die Beachtung und die Bedeutung, die er ihnen verschafft.
Außerdem ist Sarah sehr beeindruckt von Brian, auch wenn sie an seiner Selbstsicherheit verzweifeln könnte. Sie
kann sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man so ist wie er: nur einen einzigen Gedanken im Kopf, diesen
Glauben, der alles andere im Leben vorübergehend bedeutungslos werden lässt – die Arbeit, die Familie (eine Frau
und zwei Kinder, zwei Jungen mit je elf Vornamen), die Freunde und sogar. die Lieblingssendung im Fernsehen.
Diese Leute, denkt sie, diese Leute mit Religionen und Berufen, die ihnen alles bedeuten, mit Liebesaffären, die sie
verzehren, mit Hobbys, die sie jede freie Minute in Anspruch nehmen, mit Kindern, die sie blutleer saugen, mit
Fußballmannschaften, die sie auf windumtoste Hausdächer treiben… und im Gegensatz dazu sie selbst, die in einem
Leben feststeckt, in dem sich alles, aber auch wirklich alles in ihrem Kopf umeinander dreht wie die Wäsche im
Trockner, alles eine Größe, alles durcheinander – ihr Geliebter und ihre Pläne, die Arbeit und ihre Freunde.
»Sie müssen doch vorher lange darüber nachgedacht haben«, sagt Sarah am Dienstagmorgen zu Brian, als sie nach
draußen geht, um ihm die Zeitungsfotos zu zeigen.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Wann sind Sie dann auf die Idee gekommen?«
»Letzten Sonnabend erst. Wir haben so schlecht gespielt, dass ich etwas unternehmen musste.«
»Und Sie haben vorher wirklich nicht darüber nachgedacht, hier aufs Dach zu klettern?«
»Nein. Ich habe es erst gesehen, als ich vom Platz kam. Hab mir überlegt, wie ich hochkommen könnte, bin nach
Hause, habe mir die Decken und das Spruchband und die Thermoskanne geholt und bin raufgeklettert. Geht Ihnen
das nicht auch manchmal so? Dass Sie den Drang haben, einfach irgendetwas zu tun, weil Sie so frustriert sind, dass
Sie platzen könnten?«
Ich will nicht platzen, denkt Sarah später. Platzen bringt nichts, das ist nutzlos. Zeit- und Energieverschwendung.
Mit Platzen erreicht man nichts. Man sitzt dann nur als Irrer auf Hausdächern herum. Dadurch bekommt man
bestimmt nicht, was man will.
Brian braucht etwas mehr als eine Woche, um genau das zu bekommen, was er will. Es gibt Schlagzeilen in den
Zeitschriften und Dementis von Managern, Hörnergetröte und Meuten von Fans, die sich auf der Straße sammeln
und zu Brians Unterstützung Sprechchöre brüllen. Es gibt massenhaft Protestanrufe und Vertrauensbekundungen,
Stellungnahmen von ehemaligen Spielern und Pläne für einen Boykott des bevorstehenden Spiels. Der Manager
beklagt sich bitter, er würde »von Irren an den Pranger gestellt«, der Vereinspräsident bringt sein »absolutes
Vertrauen in die Fähigkeit unseres Managers, den Club aus dieser gegenwärtigen Krise zu führen«, zum Ausdruck –
aus einer Krise, die Brian im Alleingang ausgelöst hat.
Am Freitag beschließt Brian, dass er genug getan hat, klettert hinunter und lässt sich wie ein Held feiern. Am
Sonnabend verliert das Team gegen Luton. Am Montag stimmt der Manager zu, Roy Keane für eine Ablösesumme
von fünf Millionen Pfund einzukaufen, Keane schießt schon beim ersten Einsatz ein Tor, und danach legt die
Mannschaft eine Serie von siebzehn Spielen ohne Niederlage hin.
Im Mai sehen Paul und eine kleine Gruppe von Freunden von der Dachterrasse aus zu, wie sich unten auf der
Straße die Menschen drängen, um dem neuen Meister bei seinem Triumphzug im offenen Bus durch Islington
zuzujubeln. Paul hat beschlossen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen und Sarah zu dieser Meisterschaftsfeier
einzuladen, aber er fragt nicht, ob sie vielleicht noch jemanden mitbringen will. Er hat von gemeinsamen Freunden
gehört, dass es da neuerdings jemanden gibt, und er hat nicht das Bedürfnis, ihn kennenzulernen; außerdem ist die
Dachterrasse viel zu klein für derart unangenehme Situationen.
»Alles klar?«, fragt er Sarah, als sie den gerade anfahrenden Bus beobachten.
Sie nickt. »Und bei dir?«
Paul verzieht das Gesicht. »War schon mal besser. Aber ich bin froh, dass jetzt Sommer ist.«
Sarah nickt in Richtung des Busses. »Wir haben unseren Teil dazu beigetragen, nicht wahr?«
»Wir?«
»Ja, sag ich doch.«
»Schon gut. Es tut mir leid. Du weißt schon … es tut mir leid, dass ich dein Leben so durcheinandergebracht habe.«
»Hm.« Er zuckt die Achseln. »Eigentlich hast du es gar nicht durcheinandergebracht. Es ist nur so, dass alles ein
bisschen schnell ging. Ich konnte… ich habe einfach die Orientierung verloren – in einem Augenblick warst du noch
da, und im nächsten warst du weg, und…«
Sarah hat bisher noch niemandem – nicht einmal sich selbst – richtig erklären können, was in den Tagen nach dem
Einkauf von Roy Keane geschehen ist. Sie weiß nur, dass sie zu Paul gesagt hat, sie sei nicht glücklich und in ihr sei
ein Loch, das Paul nie würde füllen können, und wenn sie nicht sofort etwas unternähme, um ihre
Lebensbedingungen zu verändern, noch diese Woche, noch in dieser Minute, dann, so fürchte sie, würde sich das
Chaos in ihrem Kopf ewig weiterdrehen. Also zog sie zu einer Freundin, verliebte sich in den Bruder der Freundin,
zog bei der Freundin aus und beim Bruder ein und kotzte zwei Monate später hemmungslos ins Klo des Bruders der
Freundin. Aber es ist nicht möglich, Paul das irgendwie beizubringen. Nicht auf eine nachvollziehbare und
freundliche Art und Weise.
»He, schau mal!« Paul deutet zur Straße hinunter. »Sieh mal, wer da im Bus sitzt!«
Sarah schaut in die Richtung, in die sein Finger zeigt, und beginnt, schallend zu lachen. »Ich kann’s nicht fassen.
Wie hat er sich da nur hineingemogelt?«
Brian steht mitten zwischen den Spielern und schnappt sich die Halstücher und Hüte, die ihm zugeworfen werden.
Sarah und Paul kommt es so vor, als wäre es Brian und nicht etwa Roy Keane oder einer der anderen Spieler oder
der Manager, den die Menge sehen will. Brian, der eine Krawatte und einen blauen Anorak trägt, grinst nur und
winkt, als hätte er sein Leben lang am Sonntagmorgen nichts anderes gemacht, als einer Viertelmillion Menschen
zuzuhören, die im Chor seinen Namen ruft. Paul schüttelt den Kopf und holt noch eine Flasche Wein; Sarah sieht
dem Bus nach, bis er um die Ecke biegt und verschwindet.
Bücher: Nick Hornby “Slam”
Ausstellungen, Bücher, Fotografie, Kunst: ULRICH WÜST!
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