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Bücher: Alexander Osang “Die Graugänse kommen” Ostergeschichte 2022

Foto: Jabs

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Die Graugänse kommen

Eine Ostergeschichte von Alexander Osang 2022

 Paul redet seit einer halben Stunde von der ukrainischen Jugend, die sich in den europäischen Diskurs mische, wie er das nennt. Er lächelt. Ich erinnere mich an die Partywochenenden in Kiew, von denen mir Paul in den letzten Jahren immer mal berichtet hat. In diesen Geschichten war es um Drogen gegangen, Frauen und um Klubs, die mit dem Berghain mithalten können, weniger um den Befreiungskampf des ukrainischen Volkes. Ich kriege das nicht zusammen, gefühlsmäßig, so wie Paul. Will ich aber. Ich nehme mir den Schnaps, der seit zwei Minuten vor mir auf dem Tresen steht. Französischer Wodka mit dem Namen Grey Goose. Die Eisschicht ist schon vom schmalen Glas getaut und hat eine kleine Pfütze auf dem Tresen gebildet.

 Ich schlucke den Schnaps wie Medizin, mein Fastenbrecherschnaps.

 „Na bitte“, sagt Paul.

Ich habe ihn mit meiner Enthaltsamkeit genervt. Alle nerve ich damit. Lina hat am Ende gesagt, sie fühle sich wie eine Alkoholikerin neben mir, mit ihrem Glas Wein zum Abendessen. Vorbei jetzt. Grey Geese. Die Graugänse fliegen zurück in mein System. Der Schnaps breitet sich wie ein Virus in mir aus. Das Fastenbrechen fühlt sich nicht erleichternd an, es ist eine Kapitulation.

 Noch.

 Ich habe vor fünf Jahren nach einer Silvesterparty, die aus dem Ruder gelaufen war, angefangen zu fasten. Ich war Neujahrsmittag in einer mir unbekannten Wohnung aufgewacht, nackt. Die Wohnung war verlassen und lag im zweiten Stock eines fünfgeschossigen Neubaublocks in Ahrensfelde, wo ich sonst nie bin. Ich hatte keine Ahnung, wer dort eigentlich wohnte, es gab auch wenig Anhaltspunkte. Keine Bücher, keine Zeitschriften, keine Platten. Im Schrank hingen zwei Frauenkleider, was mich beruhigte. Ich schloss die Wohnungstür nicht ganz, weil ich Angst hatte, irgendetwas vergessen zu haben, etwas, das ich nie wieder zurückbekommen würde. An der Klingel stand: C. Beer. Ich ließ einen kleinen Spalt in diese unbekannte Welt.

Ich habe ewig gebraucht, um von dort draußen wieder in die Stadtmitte zu finden. Es ging mir wirklich schlecht. Auf der Fahrt habe ich dann beschlossen, etwas anders zu machen. Alkohol aufzugeben, war naheliegend. Mit dem Rauchen hatte ich schon ein paar Jahre zuvor aufgehört, und Drogen waren eigentlich nie so meine Sache gewesen. Jedenfalls begann damals meine Fastenzeit, bei der Abreise aus Ahrensfelde.

 Ich war nie wieder da, aber zwischen Neujahr und Ostern trinke ich jetzt keinen Alkohol mehr. Dreieinhalb Monate. Eine neue Jahreszeit, in der ich Klassiker der Weltliteratur lese und eimerweise Apfelschorle trinke.

 Paul erzählt irgendwas von einem Wodka, den der russische Außenminister der deutschen Außenministerin angeboten habe. Sie aber habe ihn nicht angerührt. Ich nicke, weil mir die Geschichte bekannt vorkommt, nicht, weil sie einen Sinn ergibt, hier an der Bar, auf der zwei leere Wodkagläser stehen. Der Barkeeper versteht mein Nicken als Aufforderung nachzuschenken. Es ist ein einziges Missverständnis.

 Kurz nachdem Corona anfing, hörte ich auf, Fleisch zu essen. Ich glaube, es hatte mit den sonderbaren Tieren zu tun, die die Chinesen da auf ihren Märkten verkauften und mit einer Szene aus „Anchorman 2“, in der ein Mann namens Champ frittierte Fledermäuse als Chicken Wings anbietet. In diesem Jahr habe ich dann auch noch Zucker gestrichen. Es erschien mir folgerichtig, zeitgemäß. Ich hatte immer mehr Schwierigkeiten, mich zu spüren in dieser durchgedrehten Welt. Milchprodukte nehme ich schon seit zehn Jahren nicht mehr zu mir, manchmal esse ich ein Stück Ziegenkäse, aber nicht nach sechs Uhr abends. Ich will nicht mehr abhängig sein, wahrscheinlich ist es das.

 Paul hebt sein Glas.

 „Auf den Frieden, Alter“, sagt er.

 „Peace“, sage ich, aber leise.

 Seit drei Jahren habe ich kein Auto mehr, anders als Paul, der mit seinem großen Volvo-Geländewagen Putins Krieg finanziert. Ein Gedanke, der natürlich nicht aussprechbar ist. Anders als der Friedenstoast mit französischem Wodka.

 Ich würde mich gern besser fühlen. Deswegen mache ich das doch alles.

 Ende Januar ist Lina ausgezogen. Drei Tage bevor unsere Quarantäne abgelaufen war. Ich habe ihr vor allem das vorgeworfen, was jetzt, mit Abstand natürlich herzlos klingt. Aber es war das, was mich am meisten störte. Wir waren viereinhalb Jahre zusammen. Lass uns doch wenigstens die zwei Wochen Quarantäne voll machen, habe ich ihr gesagt. Wirklich. Lina hat mich angesehen wie einen Geist. Wir haben uns auf der Silvesterparty bei Jeremy angesteckt, denke ich. Mein letzter Abend mit Alkohol. Lina ist vorübergehend in die Uckermark gezogen, zu einer Freundin, die da einen Kunsthof hat, mit riesigem Atelier. Annemarie. Lina hat gesagt, sie fühle sich sowieso schon komplett allein, wenn sie nur in unseren Kühlschrank gucke. Ich habe gefragt, was sie meint, obwohl ich es wusste. Sie hat auch nicht geantwortet.

 Damit war der Sex vorbei. Keinen Alkohol, keinen Zucker, keine Zigaretten, keine Milch, keinen Sex, ehrlich gesagt kann ich auch keine Eier mehr sehen, schon gar keine weichgekochten.

 Vor zehn Jahren, vielleicht sind es jetzt auch schon fünfzehn, stand ich auf dem Filmfest in Bratislava mal in einer Raucherecke mit Jim Jarmusch, dem Regisseur, der da seinen Film „Coffee & Cigarettes“ vorstellte. Damals rauchte ich noch. Jarmusch erzählte einer kleinen Runde, dass er mal mit allem aufgehört habe, um herauszufinden, wer er ist. Alkohol, Zucker, Fleisch, Zigaretten, Cannabis. Am schwersten sei ihm Zucker gefallen, sagte er, glaube ich, vielleicht auch Cannabis, vergessen. Jedenfalls nahm er in Bratislava wieder alles. Er zündete sich eine Zigarette an der anderen an. Jarmusch hatte diese dunklen Beutel unter den Augen, die man bei schweren Rauchern oft sieht. Es sah nicht so aus, als wisse er nun, wer er war. Seinen Film verstand ich auch nicht. Jack White von den „White Stripes“ saß mit seiner Frau Meg, die damals ebenfalls Bandmitglied war, an einem Tisch und redete über die Teslaspule. Wir haben beide nicht gewonnen. Bester ausländischer Film wurde „Der Kuckuck“ aus Russland. „Die Sonne im Netz“, so hieß der Preis. Das einzige, was ich aus Jarmuschs Rauchereckenrede in Bratislava behalten habe, ist: Sugar is a powerful drug.

 „Die Sonne im Netz“, sage ich.

 „Genau“, sagt Paul.

Ich könnte jetzt auch einen Katja-Ebstein-Schlager singen und Paul würde das verstehen. Wunder gibt es immer wieder. Wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehn.

 Vor ein paar Tagen redete Joschka Fischer im „heute journal“ irgendwas zum Krieg. Ich dachte die ganze Zeit, dass er aussieht wie eine Trickfilmfigur. Er hatte sich jahrelang aufgepumpt, dann hatte er die Luft abgelassen, dann wieder aufgepumpt, dann wieder abgelassen. Wie einer der Zwerge, die man in der Vorweihnachtszeit in New Jersey im Vorgarten aufbläst. Ich konnte ihm gar nicht zuhören. All das Dick und Dünn, das Für und Wider, bis gar keine Form mehr da war. So kam es mir vor.

 Ich trinke höchstens noch zwei Tassen Kaffee am Tag, nur vormittags, weil das Koffein sonst meinen Schlafrhythmus stört. Nach 15 Uhr nur noch Kräutertee. Am liebsten Salbei, obwohl der am ekligsten schmeckt.

 Die Gänse sind jetzt angekommen, im Kopf, in den Nervenbahnen, Pauls Gerede erscheint Sinn zu ergeben. Die Wahrheit ist doch: Wir reden immer über dasselbe. Ein Kneipenabend ist ein ständiges Kreisen, alles wird fünf-, sechsmal wiederholt, und je betrunkener man wird, desto geringer werden die Abstände. Am Ende bleibt ein einziger Satz, den man immer wieder aufsagt, weil man den Eindruck hat, sein Gegenüber verstehe einen nicht. Erst recht, wenn man selbst kaum noch reden kann und der Gegenüber nüchtern ist.

 Das bin ich für Paul in meinen drei Fastenmonaten: eine Wand.

 Paul ist Journalist, er arbeitet beim lokalen Fernsehen. Wir haben uns bei so einem Jubiläumsfilm über den Bau des Berliner Fernsehturms kennengelernt, den ich machen musste, weil ich Geld brauchte. Fünfzig Jahre Fernsehturm. 2018 war das, ein Jahr vor dem Jubiläum. Paul war der Redakteur. Ich habe keine Ahnung von Architektur und auch keine von Geschichte, Paul aber auch nicht. Wovon wir ebenfalls keine Ahnung haben, ist Osteuropa. Wir sind aber, soweit ich das sagen kann, einer Meinung. Darum gehts doch.

 Der Barkeeper räumt mein halb leeres Glas Rhabarberschorle ab, der letzte Zeuge meines alten Lebens. Ich verlasse meine Höhle, mein Fass, meinen Berg. Ins Licht, ins Licht. Jetzt ist keine Kapitulation mehr, sondern eine Rückkehr ins Leben. Ich kippe den dritten Schnaps und küsse Paul auf die Wange. Er wischt sich den Kuss ab, lächelt aber.

 „Welcome back, Kiddo“, sagt Paul.

 Er ist fünf Jahre jünger als ich, behandelt mich aber wie ein Kind. Seltsamerweise verstehe ich das. Ich sperre mich gegen die Zeit, den Lauf der Dinge. In meinen trockenen Phasen weiß ich manchmal nicht, wie ich den Tag rumbekommen sollte. Soviel Zeit, soviel Bewusstsein. In den letzten drogenfreien fünf Vierteljahren habe ich die Brüder Karamasow gelesen, Moby Dick, Mann ohne Eigenschaften, Jahrestage, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Das wäre mir sonst nicht möglich gewesen. Ich kann mich nicht abschalten, ausknipsen, wegschießen. Mit so einem Schnaps kann man sich wunderbar ausschalten. Es ist wie Proust, nur ohne lesen. Man schläft nach drei Seiten ein, weiß aber, worum es geht. Fühlt es. Ich sehe Pauls Mund auf- und zu gehen.

 „Was?“

 „Du hast doch genug Platz jetzt, Alex.“

 „Wofür?“, frage ich, obwohl ich weiß, was er meint.

 „Kitty und Max haben eine Frau mit zwei Kindern aufgenommen, aus Lemberg“, sagt Paul.

 „Lwiw“, sage ich und fühle mich seltsam gut dabei, kompetent. Paul nickt abwesend.

 „Sie sind aber schon weiter, nach Norwegen, glaube ich. Sie haben da eine Tante“, sagt er.

 „Kitty und Max“, sage ich und lecke mein leeres Wodkaglas aus.

 „Vielleicht auch in Schottland. Jedenfalls irgendwas mit Lachsen, da arbeitet die“, sagt Paul.

 Ich sehe ihn an, fragend.

 „Die Tante“, sagt er. „Aquakultur.“

 Ich denke an eine Dokumentation über norwegische Lachszucht, die ich vor ein oder zwei Jahren auf Arte gesehen habe. Die Wunden der Fische, die Enge, die Antibiotika, der Nebel über den Tanks. Und im Gegenschnitt Bären in Alaska, die keine Fische mehr finden. Seitdem kennen mich die Männer an der Fischtheke im Frischeparadies. Unzählige Gespräche über Fangweise und Fischbestände. Die Skrei-Saison ist abgelaufen. Keine Schleppnetze, keine Aquakultur. Schon das Wort. Aquakultur. Wie Soylent Green. „Die überleben wollen.“ Im Prinzip habe ich mich auch vom Fisch verabschiedet, innerlich. Es ist nur die Angst, vollständig aus dem Leben zu kippen. Allein die Flüchtlingsfamilie und die furchtbaren Lebensbedingungen der norwegischen Lachse miteinander zusammenzudenken, wie man so sagt, verbietet sich doch. Sagen würde ich es sowieso nicht. Aber denken tue ich es. Leider. Ich denke daran, was die ukrainischen Flüchtlinge in Kittys und Max’ Kühlschrank getan haben auf ihrem Weg in die Fischfanggründe im Norden. Industriekäse, Zervelatwurst. Vier-Euro-Hühner.

 Ein Schnaps noch.

 Ich nicke dem Barkeeper zu. Paul sieht mich belustigt an. Es ist etwas Überlegendes in dem Lächeln, so als durchschaue er mich und meine Fastenroutine.

 Am anderen Ende der Bar sitzt eine Schauspielerin, die mal für einen Fernsehfilm gecastet wurde, den ich produziert habe. Wir haben sie dann nicht genommen, weil meine Coproduzentin meinte, sie sei zu alt, obwohl sie ein Jahr jünger war als die Rolle, die sie spielen sollte. Ich nicke ihr zu, sie nickt zurück, obwohl ich nicht glaube, dass sie weiß, wer ich bin. Ich schaue in mein Glas, frage mich, ob sie auch russischen Wodka haben, ob es vielleicht einen illegalen Handel gibt, Speakeasies, in denen Kaviar serviert wird und Schampanskoje.

 „Eigentlich kann man ja auch keinen französischen Wodka mehr trinken“, sage ich. Der Barkeeper guckt mich gelangweilt an. „Le Pen“, sage ich. Der Barmann glotzt, vielleicht ist er Neonazi. Paul ist verschwunden, wahrscheinlich auf dem Klo. Ich checke die Wodkasituation auf dem Handy. Die Top Ten.

 Ich bestelle zwei Belvedere Wodka. Wodka Belvedere kommt aus Polen. Absolut ist aus Schweden. Auch Elyx ist aus Schweden. Lions Munich aus Deutschland. Ein Wodkaboykott ist offenbar einfacher als ein Gasboykott. Ich denke an Karl Schlögel und „Das sowjetische Jahrhundert“, ein Wälzer, den ich Anfang des Jahres gelesen habe, in anderthalb Wochen. Letztes Jahr habe ich Isaak Babels Aufzeichnungen aus dem Bürgerkrieg gelesen, „Die Reiterarmee“, die Stalin-Biografie von Montefiore und „Blut und Feuer“, ein russisches Bürgerkriegsdrama, das eigentlich verschollen war, vergessen. Ein unfassbares Gemetzel, ein einziger Abgrund. Ich sehe, wie Paul lächelnd vom Klo wiederkommt, und überlege, ob ich mit ihm über Schlögel reden könnte, den Terror, die Verzweiflung, den Wahnsinn, habe aber den Eindruck, dass das sowjetische Jahrhundert nicht sein Thema ist. Bevor Paul die Bar erreicht, sehe ich, dass ich bereits beide Wodka Belvedere getrunken habe, und bestelle neue.

 „Babel hat teilweise gar nicht gewusst, auf welcher Seite er kämpft“, sage ich.

 Paul sieht mich ratlos an, aber zufrieden.

 „Mit den Weißen oder mit den Roten“, sage ich. „Isaak Babel.“

 „Ach so“, sagt Paul. Er nickt nach hinten. „Der Pool-Tisch wäre frei.“

 Und dann spielen wir Billard, und ich merke wie unglaublich ruhig meine Hand ist, einerseits. Andererseits habe ich ganz klar Schwierigkeiten, die Sichtachse von weißem und farbigem Ball zu halten. Und dann öffnet Paul seine Hand, in der zwei Pillen liegen. Und dann ist Paul weg. Und dann streicht mir die Schauspielerin über die Wange, und ihre Lippen sehen geküsst aus, obwohl ich immer noch nicht weiß, wie sie eigentlich heißt. Und dann ist Paul wieder da, aber wir sitzen in einer anderen Bar irgendwo in Mitte, Seitenstraße. Alle sprechen Englisch. Hinter der Bar steht eine Frau, die aussieht wie Grace Jones. Wir trinken Cocktails, die so teuer sind wie ein Taschenbuch. Alle rauchen. Es läuft „Keep On Loving You“ von Cigarettes after Sex, und Paul erzählt mir, dass das Lied ursprünglich von REO Speedwagon sei, wobei er ein Gesicht macht, als verrate er mir die Weltformel. Und dann merke ich, dass das gar nicht Paul ist, sondern jemand anderes, und ich frage ihn, wie er heißt, und er sagt: „Na Kai, habe ich doch gesagt.“

 Kai macht irgendwas mit erneuerbaren Energien. Er schäme sich, dass es so gute Nachrichten für seinen Bereich gibt, mitten in all den schlechten. „Es ist ja sogar so, dass die schlechten Nachrichte gute Nachrichten für mich sind“, sagt er. Er horcht seinen Worten nach, als habe er Plato zitiert. Kai hat große Windparks in Namibia aufgebaut, im Kosovo und auch in der Ukraine, jetzt konzentriert er sich auf Deutschland. Auch wegen der Familie. Er hat zwei kleine Kinder und lebt in Kleinmachnow.

 Und dann ist auch Kai weg. Vorher hat er mir noch gesagt, dass die ukrainische Jugend sich in den europäischen Diskurs mische. Glaube ich jedenfalls. Und dann fällt mir ein, dass sich Paul irgendwann verabschiedet hat, weil er noch Ostereier verstecken müsse, wie er sagte. Wahrscheinlich war das ein Anspielung, ironisch gemeint. Paul hat keine Kinder. Und dann rede ich mit Katja, einer Malerin, die vor zehn Jahren mal mit meinem Freund Tom zusammen war. Keine Ahnung, wo die plötzlich herkommt, es ist jedenfalls halb fünf Uhr morgens.

 Die letzten fünf Stunden sind in einem schwarzen Loch verschwunden. Das passiert ja immer, aber ich hatte es vergessen. Die Fastenzeit ist wirklich vorbei.

 Tom war Trauzeuge meiner ersten, einzigen und sehr kurzen Ehe. Nachdem sich Katja von ihm trennte, ging er für die Friedrich-Ebert-Stiftung nach Ramallah, und ich habe nie wieder von ihm gehört. Ich würde gern wissen, wie es ihm geht, aber erstmal redet Katja. Sie hat ihre Schwester und deren drei Kinder bei sich aufgenommen, sagt sie, und ich begreife, dass sie Ukrainerin ist. Seltsamerweise habe ich sie immer für eine Russin gehalten. Katja sagt, dass sie seit Kriegsbeginn als Stringerin fürs deutsche Fernsehen arbeitet. Sie nimmt ein Zigarette aus einer Schachtel Marlboro, rot, und bietet mir eine an. Ich nehme die, obwohl ich, wie gesagt, vor acht Jahren aufgehört habe zu rauchen. Es war in etwa die Zeit, in der sich Katja und Tom trennten. Ich frage lieber nicht nach Tom, weil Ramallah und die Friedrich-Ebert Stiftung an Relevanz verloren haben, und ich ja auch gar nicht weiß, ob er überhaupt noch da unten ist, Tom. Irgendwie kann ich mir ihn auch gut in der Ukraine vorstellen, gerade jetzt. Er ist mir in besserer Erinnerung als Pia, meine Ex-Frau. Was die macht, weiß ich aber auch nicht. Und dann fällt mir ein, dass Tom mir mal irgendwann erzählt hat, wie er und Katja auf der Krim Urlaub gemacht hätten. Ich weiß gar nicht genau, ob das vor oder nach der Annexion war; alles, woran ich mich erinnere, ist, dass im Wasser Schlangen waren, die sie beim Schwimmen gebissen haben. Ungiftige Wasserschlangen.

 Katja erzählt mir, dass sie gestern für irgendeine Solidaritätsnummer in einer Fernsehshow mit Eckart von Hirschhausen gebucht wurde. Sie fühle sich – ihre Worte – zwischen diesen Clowns wie eine Programmnummer. Ein Act des Leids. Sie wirkt sehr genervt. Verstehe ich total. Wir sind gerade komplett auf einer Wellenlänge, ich nehme mir noch ein Zigarette, obwohl mir ziemlich schwummrig ist von der ersten. Ich habe zum ersten Mal seit Wochen das Gefühl, einigermaßen zu verstehen, was los ist. Ich frage Katja, ob ich sie zu einem Drink einladen kann, aber sie sagt, sie müsse los. Irgendein Porträt einer ukrainischen Hochspringerin für das Sportstudio vorbereiten. Außerdem trinke sie nichts mehr. Seit damals.

 „Damals?“, frage ich.

 „Du weißt schon“, sagt sie, und ich nicke, obwohl ich keine Ahnung habe, was sie meint. Unsere Wellen schwingen nicht mehr synchron, aber Katja lässt mir drei Zigaretten da.

 Zwei davon rauche ich noch, dann gehe ich. Draußen ist es hell, und das passt überhaupt nicht zu meinem Zustand. Auf der Straße kommt mir eine alte Dame entgegen. Ich lächle ihr zu, aber sie schaut durch mich hindurch, als habe sie Angst, ich würde ihr die Handtasche klauen. Die Glocken läuten. Achtmal. Richtig, Ostersonntag, die alte Frau ist wahrscheinlich auf dem Weg zur Kirche. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nur vage Vorstellungen von der Ostergeschichte. Verrat, Kreuzigung, Auferstehung, klar, aber was ist heute genau passiert? Wenn ich mich richtig erinnere, fand man Jesus nicht mehr in der Grabhöhle. Vor drei Jahren habe ich in meiner Fastenzeit Montefiores Jerusalem-Buch gelesen. Alles vergessen.

 Mitten in meine österlichen Gedanken hinein höre ich ein Schnaufen, ich drehe mich zu der Bartür um, aus der ich gerade getreten bin, und sehe einen Mann, der in den Hauseingang daneben pinkelt. Ich sehe ihn nur von hinten, aber es ist Kai, ganz klar. Plato pisst in den Ostermorgen. Ich schaue die Torstraße rauf und runter, ich schiebe Wache für einen urinierenden Windparkentwickler. Er braucht ewig, bis er die Hose wieder zu hat, und als er sich zu mir dreht, sehe ich, dass er sich ein bisschen bepinkelt hat. Bis Kleinmachnow ist das wieder trocken. Ich winke ihm nochmal zu, aber Kai erkennt mich nicht, hier draußen.

 Ich gehe langsam die Torstraße hinunter zum Naturkunde-Museum, weil ich in die Richtung muss, obwohl ich vergessen habe, warum. Irgendwann drehe ich mich nochmal um und sehe, wie Kai versucht, ein Taxi anzuhalten. Sein Körper ist seltsam verdreht dabei, wahrscheinlich will er nicht, dass die Taxifahrer seine Hose sehen. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern macht einen großen Bogen um den seltsamen Osterspaziergänger. Ich kann mir nicht vorstellen, wie seine eigenen Kinder auf Kai reagieren, in Kleinmachnow. Ich hoffe, dass bald ein Taxi anhält.

 Und dann stehe ich an der Currywurstbude am Hauptbahnhof, vor mir ein Schälchen mit Pommes. Wurst ging noch nicht, nach all der Zeit, obwohl ich wirklich darüber nachgedacht habe. Ich schaue zu dem Tabakladen auf der anderen Bahnhofsseite. Tabak und Whisky. Gestern um die Zeit hätte ich nicht gewusst, wie ein Geschäft mit dem Angebot hier überleben kann, inzwischen ist mir das absolut klar. Ich frage mich, ob ich eine der Pillen von Paul geschluckt habe. Ich kann es mir nicht vorstellen, was natürlich nicht viel heißt. Auf der Suche nach der Pille finde ich einen Zettel in meiner Hose, den ich offenbar in der Bar beschrieben habe. Es ist eine Skizze mit der Anfahrt zu meiner Wohnung. Da steht, welcher Schlüssel für welches Schloss ist, wo die nächsten Bioläden sind und wie der Müll getrennt wird. Ich hab das geschrieben, als ich Katjas letzte Zigaretten rauchte. Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich überhaupt hier bin. Helfen. Ich schaue nach draußen, wo die Firma Vodafone große Begrüßungszelte für Flüchtlinge aufgestellt hat. Da gebe ich meine Schlüssel und den Zettel ab, denke ich. Aber als ich dann am Ausgang bin, in der Drehtür, verwirrt mich die Symbolik, die ukrainische Fahne zusammen mit dem Vodafone-Logo. Ich habe bei Vodafone mal zwei Jahre lang versucht, meinen Vertrag aufzulösen. Ich hatte immer nur irgendwelche Drücker am Telefon. Furchtbar. Die Klarheit, die ich im Gespräch mit Katja verspürt habe, ist jetzt weg, ich bleibe zwei oder drei Runden in der Drehtür und nehme die Rolltreppe zu den S-Bahnen, erstmal.

 Und dann lehnt mein Kopf an einer Scheibe, ich trage eine Maske. Draußen fliegen Neubauten vorbei, und in meinem Kopf singt Katja Ebstein. Das ist seltsam, weil ich die nie gehört habe, nicht mal meine Eltern haben die gehört. Aber sie singt jetzt in meinem Kopf. „Viele Menschen fragen, was ist schuld daran. Warum kommt das Glück nicht zur mir? Fangen mit dem Leben viel zu wenig an. Dabei steht das Glück schon vor der Tür.“ Die Maske kratzt ein bisschen, aber ich bin doch froh, dass ich sie aufhabe und nicht einer der Männer bin, die tagsüber bewusstlos S-Bahn fahren. Männer, die nie eine Maske aufhaben und meistens streng riechen, so dass die Sitzplätze um sie herum frei bleiben. Noch nicht. Und dann zerrt jemand an meiner Schulter. Er trägt eine Uniform.

 Er sagt: „So.“

 Ich sage: „Was?“

 Er sagt: „Wir sind da.“

 Ich sehe aus dem Fenster und wäre wirklich froh, wenn der Mann recht hätte. Aber es ist nur die Endstation. Ich stehe auf und gehe in den Tag. Überall Osterspaziergänger und diese Neubauwelt, die mir aus irgendeinem Grund Vertrauen einflößt. Niemand von meinen Freunden würde in diese Gegend ziehen, ich natürlich auch nicht. Aber wenn ich da bin, werde ich ganz ruhig. Ich erkenne das Haus sofort wieder und auch den Namen auf den Klingelschildern. C. Beer. Ich habe immer noch keine Erinnerungen bis auf den schmalen Spalt, den ich vor fünf Jahren offengelassen habe, um zurückkehren zu können. Ich drücke den Knopf. Ich warte.

 Und dann höre ich ein Quaken im Himmel von Ahrensfelde. Ich gehe ein paar Schritte zurück und schaue dabei nach oben, weswegen ich das Gleichgewicht verliere. Ich taumele ein paar Schritte rückwärts, die Hände ausgebreitet wie ein Vogel, obwohl ich natürlich nicht fliegen kann, schon gar nicht heute. Dennoch scheint es eine Ewigkeit zu dauern, bis ich schließlich falle, aufschlage. Ich sehe in den Himmel und sehe zwei Gänse im Himmel. Sie schnattern ein bisschen und dann verschwinden sie über einem Hochhaus, und ich schließe die Augen. Ich frage mich, wo die Graugänse eigentlich überwintern und ob Kai inzwischen zuhause ist, in Kleinmachnow. Ich stelle mir vor, wie Osterspaziergänger an mir vorbeigehen wie an einem überfahrenen Hund. Roadkill. Es hat nicht mal zwölf Stunden gedauert. Vom Salbeitee bis auf den Bürgersteig hier. Und dann schnarrt es wieder dort oben, ich öffne die Augen. Es blendet, ich sehe nichts. Da ist nur das quäkende Geräusch. Und dann merke ich, dass es gar nicht die Graugänse sind. Es ist das Klingelbrett. Jemand versucht, mir die Tür zu öffnen.

Bücher, Fussball, Kino: U. N. V. E. U.

Union-Stadtmeister

Der Film “Dit is Union, verstehste” von Marc Rademacher und Daniel Becht über die Bundesligasaison 2019/20 zeichnet ein intimes und überzeugendes Bild des 1. FC Union.
Und Christoph Biermanns Buch “Wir werden ewig leben” beschreibt das Innenleben dieses faszinierenden Fußballvereins sehr anschaulich und interessant.
(Störend empfand ich beim Lesen nur das ständig gebrauchte, zumeist falsch verwendete “war … gewesen”.)
Biermann zitiert auch Daniel Blauschmidt (“Boone”) mit den vier Geboten der Union-Fans:
– Mache nie einen Spieler zum Sündenbock
– Pfeife nie die Mannschaft aus
– Verlasse nicht vor dem Schlusspfiff das Stadion
– Heiserkeit ist der Muskelkater des Unioners

Bücher, Fussball: Persönliche Bestenliste Fußballliteratur

Foto: Jabs

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Die zehn besten Fußballbücher, die ich gelesen habe:
NICK HORNBY: “Fever Pitch”
RONALD RENG: “Der Traumhüter”
KARL OVE KNAUSGARD & FREDRIK EKELUND: “Kein Heimspiel”
RONALD RENG: “Robert Enke”
RONALD RENG: “Mroskos Talente”
SIMON KUPER: “Football against the Enemy”
 J. L. CARR: “Wie die Sinderby Wanders Meister wurden”
TIM PARKS: “Eine Saison mit Verona”
PHILIPPE DUBATH: “Zidane und ich”
HANS VAN DER MEER: “Spielfeld Europa”

Bücher, Fussball: Karl Ove Knausgard und Fredrik Ekelund: “Kein Heimspiel” – eine nachdrückliche Leseempfehlung

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102-Heimspiel

Ich bin mir sicher, dass alle Freunde des Fußballsports dieses Buch lieben, wenn sie denn den Briefwechsel der Autoren gelesen haben. Es bereitet großen Lesespaß, den Gedanken dieser Schriftsteller und durchaus versierten Amateurfußballer zu folgen. Wie auch wir tiefsinnigen Sportfreunde es fortwährend pflegen, das gesamte Leben anhand von Analogien aus dem Fußball zu erklären, gelingt es dem Norweger Knausgard und dem Schweden Ekelund den Leser in ihren Bann zu ziehen. Die Handlung spielt in der Zeit der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Keine Angst, es geht mitnichten nur um Fußballspiele! Die brillanten Schriftsteller denken nicht nur scharfsinnig über ihren Lieblingssport nach. Erzählt wird auch die Geschichte einer hehreren Männerfreundschaft. Klug wird über ihre politischen Einstellungen geschrieben. Trotz der Länge des Buches wird das Lesen nie langweilig, nein, es macht Spaß, den Gedanken zu folgen.
Zitate Karl Ove Knausgard:
“Alle Männer, die ich kenne, denken ständig an Frauen, jeden Tag, von ihrem sechsten Lebensjahr an, bis sie sechsundneunzig sind, und jede Frau, die sie kennenlernen, wird nach folgender Prämisse beurteilt: Wie wäre es wohl, mit ihr zu schlafen? Das ist kein Sexismus, das ist menschlich.”
“Ich glaube, die Vorstellung, dass alle Menschen gleich viel wert sind, ist eine oberflächliche Vorstellung, eine Idee, mit der wir uns schmücken, die wir aber eigentlich tief in unserem Inneren, wenn es darauf ankommt, nicht wirklich meinen.”
“Mein Kopf ist in der alten Welt, der Körper in der neuen, und ich werde zwischen diesen beiden Polen zerrieben.”
“Es ist doch nur Fußball. Es führt zu nichts, erschafft auch nichts, denn im selben Augenblick, in dem etwas getan wird, ist es auch schon wieder vorbei. Nichts hat Bestand im Fußball. Es ist ein spiel. es ist das Gegenteil von Ernst. Das Gegenteil von Sinn. Das Gegenteil von intellektuell. Rs hat keinen sinn. Es macht einfach nur Spaß.”
“Fußball ist ein Schauspiel, der Ort, wo die gewöhnliche Welt keinen Platz hat, eine Zone von verdichtetem Sinn.”
“Eifersucht aus Liebe ist wohl nicht so schwierig einzuräumen, aber Neid auf den Erfolg eines freundes zum Beispiel ist nichts, was man leichten herzens zugibt. Wenn ich einen Mann mit guten Eigenschaften kennenlerne, einen Mann, der so ist, wie Männer sein sollten, freundlich, großzügig, stark, intelligent, UND DEN DIE FRAUEN LIEBEN. Männer, die so gut sind, dass man kein schlechtes wort über sie verlieren kann, DA VERDÜSTERT SICH MEIN INNERES. Ich weiß, dass ich nicht bin wie er, und dass ich nie so werden kann wie er. Und darauf bin ich neidisch und eifersüchtig.”

Bücher, Fussball: “Alles auf Rot”

101-Adventskalender-Jonathan 102

Verschiedene Autoren schrieben Kurzgeschichten über den Berliner Lieblingsverein.
Christoph Biermann, Moritz Rinke, Johannes Ehrmann, Thomas Brussig, Wolfram Eilenberger, Gunnar Leue, Chris Deutschländer, Manuela Thieme, Torsten Schulz, Annett Gröschner u. a., aber auch Ronja von Rönne und Sönke Wortmann meldeten sich zu Wort.
Mich begeisterten: Moritz Rinke: “Die Wahrheit über Polter” und Andreas Merkel: “Dem Torwart sein Bier”.
Frank Willmann und Jan Böttcher gaben das Büchlein heraus.
Und niemals vergessen – Eisern Union!
Zitate:
“Kunst ist nichts, das mal so eben passiert, und zumindest diese Eigenschaft hat sie seit jeher gemeinsam mit einem Dasein als Profi, als Fußballprofi – beides nichts, das von heute auf morgen käme, und selbst dann, wenn es kommt, für immer in Stein gemeißelt wäre. Nein, beides verlangt nach stetem Tropfen, nach unaufhörlicher Bestätigung des Niveaus, nach Weiterentwicklung des bereits einmal Angedeuteten. Nichts wird einem geschenkt, und wer bloß an den Markt oder seinen persönlichen Erfolg denkt, hat schon verloren. Auch das haben sie schönerweise gemeinsam. Und alle Lust will schließlich Ewigkeit. ” (Marius Hulpe)
“Natürlich haben wir Fans in den 70er und 80er Jahren, von der Kleidung und vom Aussehen und damit eben auch aus einer haltung heraus, ein kleines Gegenbekenntnis gegen den Arbeiter- und Bauernstaat abgegeben. Aber die Staatssicherheit hatte ganz andere Probleme als 2000 Hotten, die sich für Widerstandskämpfer hielten, weil sie die Polizei nicht mochten.
Union war kein Widerstandsklub und wir haben hier auch nicht Erich Mielke bekämpft, und der war auch nicht Wochenende für Wochenende damit beschäftigt, mit der Kalaschnikow in der Hand Union von Niederlage zu Niederlage zu treiben.” (Michael Wolf)

Bücher, Fotografie, Kunst: Ulrich Wüst: “Stadtbilder”

Fotos: Ulrich Wüst

Fotos: Ulrich Wüst

Wüst-Photonews

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Ein hochwertiger Bildband des großartigen Ulrich Wüst von Hartmann Books!
Die Aufmachung ist  klasse – Einband: dicke schwarze Pappen, Buchrücken: rotes Leinen, der Schutzumschlag lässt sich zu einem riesigen Plakat (ca. DIN A1) auseinanderfalten.
Die grafische Gestaltung (Florian Lamm) gefällt mir nicht so sehr: Typografie nicht schön, Schrift auf dem Einband ist unverständlich klein, Textseiten zu wenig Seitenrand (nicht mal Platz für Seitenzahlen).
Aber die Fotos: Alle Wüst-Motive sind Meisterwerke, intelligente Fotografien. In diesem Buch kann man 102 Ansichten aus Bernau, Berlin, Magdeburg, Leipzig, Rostock, Karl-Marx-Stadt, Jena, Templin, Prenzlau, Potsdam,  aus den Jahren von 1979 bis 1985 bestaunen. Allesamt unaufgeregte, aber außerordentlich präzise Blicke. Das Schwarzweiß in so vielen Grautönen… Es unterstreicht die gesellschaftliche Stimmung dieser Zeit in der DDR und erzählt Geschichte.

Bücher: Diesjährige Weihnachtsgeschichte von Alexander Osang

Foto: Jabs

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Schopska!

Meine Eltern kamen nicht nach Bulgarien. Bulgarien war kein Land für sie, sagte meine Mutter am Telefon, nachdem ich sie eingeladen hatte, mit uns Weihnachten zu feiern. Als ich nachfragte, welches Land denn für sie infrage käme, reichte sie den Hörer an meinen Vater weiter, wortlos. Ich saß im Lehrerzimmer der amerikanischen Schule in Sofia, wo ich dreimal die Woche Deutsch unterrichtete. Es war früher Nachmittag, ich sah auf die verschneiten Gipfel des Witoschagebirges und wartete darauf, wie mein Vater in Frohnau langsam zum Telefonapparat schlurfte. Sie telefonierten nur auf dem Festnetz, aus Sicherheitsgründen, wie sie sagten. Sie riefen auch nie hier in Sofia an, sie wollten angerufen werden. Mein Vater erklärte mir dann, dass die Letalitätsrate in Bulgarien dreimal so hoch sei wie die in Deutschland. Sie wären allerdings auch nicht gekommen, wenn sie nur halb so hoch gewesen wäre, die Letalitätsrate. Ich dachte kurz darüber nach, ihm zu erzählen, dass man ganz in der Nähe Ski fahren konnte, ließ es aber sein. Auch der bulgarische Schnee wäre unakzeptabel gewesen, zu nass sicher. Bulgarien war kein Land für sie. Das war die Haltung.

  Isabelle aber schien mich, je näher Weihnachten rückte, um die beiden Ignoranten zu beneiden. Das lag natürlich an ihrer Mutter. Die kam gerne.

  Wir holten sie am 24. Dezember vom Flughafen Sofia ab, mittags.

Kerstin trug eine riesige Fellmütze und einen filzigen gelben Mantel mit Pelzkragen. Sie dachte sicher, Bulgarien sei einer der wenigen Plätze auf der Welt, wo man noch bewundert wurde, wenn man Tierfelle trug, und das konnte gut sein. Jedenfalls betrat sie die Halle wie ein älterer Popstar, eine Countrysängerin vielleicht. Ein kleiner Mann in einem grauen Arbeitsanzug schob Kerstins Gepäck auf einem Flughafenwägelchen in unsere Richtung. Es waren zwei große Koffer, die aussahen, als stammten sie aus ihrer Jugendzeit.

  „Wie lange will sie denn bei uns bleiben?“, fragte ich Isabelle leise. „Dolly Parton?“

  „Lass mich in Ruhe“, flüsterte Isabelle und machte ein, zwei Schritte rückwärts. Sie lief ihrer Mutter nicht entgegen, sie floh vor ihr.

  Ich roch schon aus zehn Meter Entfernung Kerstins Parfüm, es war irgendwas mit Patchouli, soweit ich mich erinnerte. Sie hatte damit einst die Kleider besprüht, die sie in ihrem alten Leben auf Modenschauen vorführte, dem Ost-Berliner „Mode Circus“. Angeblich wirkte der Duft aphrodisierend.

  „Hallo, Mama“, sagte Isabelle.

  „Du siehst blass aus“, sagte Kerstin.

  Isabelle verdrehte die Augen, ihre Mutter steckte dem kleinen Mann eine Münze zu, sagte „Spassibo“, worauf Isabelle ihr erklärte, das sei Russisch und nicht Bulgarisch. Kerstin zuckte gelangweilt mit den Schultern und fragte nach einem Kühlschrank. Wegen der Sülze.

  Isabelle sagte: „Du hast doch nicht etwa Sülze dabei?“

  Kerstin redete irgendwas von Schweinefüßen, Fleischer Kopka aus Weißensee, Weihnachten ’87, und schon lief eines dieser Gespräche, die ich nicht mal zur Hälfte verstand. Es ging um Probleme einer Zeit, die ich nie kennengelernt hatte. Einer Zeit, in der man seine Kleider mit selbst angerührtem Patchouliparfüm besprühte, per 

Anhalter nach Ungarn reiste, um dort nachgemachte Jeans und Windelkleider zu kaufen, was immer das war, und Schweinefüße auskochte. Es war, als würden sich Erwachsene unterhalten. Ich fand das nicht unangenehm, niemand erwartete von mir, dass ich etwas verstehe. Im Gegenteil: Sie wollten, dass ich mich raushalte. Das 

entsprach meinem Temperament. Ich trug die Koffer zum Parkplatz. Sie waren schwer und beulig, die Griffe waren aus Kunstleder. 

  Kerstin musterte unseren Golf enttäuscht, wahrscheinlich hatte sie mit einer Staatskarosse gerechnet, S-Klasse mit Standarten, Fahrer in Livree, Hausbar im Fond. Immerhin hatten wir ein Diplomaten-Nummernschild, was bei der korrupten bulgarischen Polizei nützlich war.

  Ich fuhr. Isabelle und ihre Mutter setzten sich nach hinten und redeten weiter von Sülze und dem Flughafen Schönefeld, dem alten und dem neuen. Es wurde ruhiger, als wir die Stadt erreichten. Ich beobachtete im Rückspiegel, wie Kerstin die Gegend studierte. Sofia war keine besonders schöne Stadt. Ich hatte nie etwas anderes erwartet. Für Kerstin aber klang Sofia sicher verheißungsvoll, exotisch. So wie für mich Taschkent oder Casablanca geklungen hatte, bevor ich zum ersten Mal da war. Das nahm ich jedenfalls an. Ich hatte mal eine Erzählung von Wolfgang Herrndorf gelesen, die den Titel „Bulgarien“ trug. Der Erzähler wachte eines Morgens auf und hatte das Image einer bulgarischen Landschaft vor Augen, obwohl er das Land nie besucht hatte. Ich sah den Unglauben in Kerstins Blick, als wir vor der Botschaft hielten. Es war so ein bräunlich verspiegelter Glas-Betonwürfel, die alte DDR-Botschaft. Sie hatten nur das Schild ausgetauscht.

  Kerstin schaute ihre Tochter an, als hätte die eine schlechte Zensur nach Hause gebracht.

  „Sie bauen gerade eine neue Botschaft“, sagte Isabelle. „Wird richtig schick.“

  Kerstin nickte kurz, als genehmige sie den Plan.

  Ich dachte daran, wie unser Außenminister den Grundstein für die neue Botschaft gelegt hatte, zwei Jahre war das her. Wir waren damals gerade in Bulgarien angekommen. Niemand dachte an Pandemien und Letalitätsraten, das größte Problem war das Flugzeug unseres Außenministers, das wegen einer technischen Panne über eine Stunde zu spät kam. Alle schienen überrascht, wie geduldig der bulgarische Präsident auf den deutschen Staatsgast wartete. Sogar die FAZ war überrascht. Ich aber fragte mich, was er sonst so machte, der bulgarische Präsident. Natürlich sagte ich nichts. Niemand erwartet irgendeine Einschätzung von mir, dem mitreisenden Ehemann. Der Außenminister stand dann vor seinem Airbus, die Hände in den Hosentaschen, und redete in ein orangefarbenes ZDF-Mikrofon. Bei einem Kameraschwenk sah man Isabelle später kurz im „heute-journal“. Der Focus des Berichtes hatte allerdings nicht auf Bulgarien gelegen, sondern auf der Flugzeugpanne.

  „Ick dachte erst, sie ham den Palast hier wieda uffjebaut“, sagte Kerstin. Und dann in meine Richtung: „Den Palast der Republik, Tillmann.“

  Ich kicherte, aber Isabelle schaute ernst. Ich verstand, wie gesagt, oft gar nichts.

  Der Außenminister hatte damals eine Zeitkapsel mit nach Sofia gebracht, die im Grundstein der neuen Botschaft versenkt worden war. In der Zeitkapsel befand sich Erde, die sie unter dem Auswärtigen Amt in Berlin-Mitte ausgegraben hatten, offenbar unter großen Schwierigkeiten. Es sei ja alles versiegelt dort unten, hatte der deutsche Außenminister mehrfach gesagt, es hatte geklungen, als fließe sein eigenes Blut ins Fundament des Botschaftsneubaus. Der Außenminister stammte aus dem Saarland, er fing noch mal ganz neu an mit der deutschen Geschichte. Ich verstand das natürlich, obwohl die Zeitkapsel ja praktisch schon hier war. Wir standen gerade vor ihr.

  Wir betraten die alte DDR-Botschaft.

  Im Foyer wurde gerade das Bild des saarländischen Außenministers abgehängt und durch das seiner Nachfolgerin ersetzt, die aus Niedersachsen stammt. Sie hatte ihren Hoppla-hier-komm-ich-Gesichtsausdruck aufgesetzt. Irgendwie wirkte die Ostbotschaft mit dem Porträt der ersten deutschen Außenministerin nun noch mehr aus der Zeit gefallen, fand ich. Es roch nach süßen Bonbons, Desinfektionsmittel und Zigaretten, obwohl Rauchen natürlich verboten war. Die neue Außenministerin reiste gerade durch Europa. Sie besuchte Frankreich, England und Polen. Nach Bulgarien würde sie wohl erst mal nicht kommen, dachte ich. In drei Jahren war Isabelles Zeit als Kulturattaché vorbei, dann ging’s für uns nach Berlin zurück. Ich wurde schwermütig, wenn ich daran dachte. Ich war gern mitreisender Ehemann. Ich fühlte mich wohl in der Rolle. Zeitgemäß und dennoch nicht überfordert.

Ein Mondkrater ist nach dem Schwiegersohn benannt

  „Die Pionierleiterin“, sagte Kerstin, als das Porträt hing, und diesmal lachte auch Isabelle. Ich fragte nicht, worüber.

  Isabelle meldete ihre Mutter auf dem Botschaftsgelände an, dann gingen wir mit den Koffern zu unserer Wohnung, die gleich in der Nähe lag, auf der anderen Seite der Frederic-Joliot-Curie-Straße. Die Frauen liefen vorneweg. Ich trug die Koffer meiner Schwiegermutter. Frederic Joliot-Curie war der Schwiegersohn von Marie Curie. Es gab mal die Überlegung, ein chemisches Element nach ihm zu benennen, die aber wieder verworfen wurde. Ich hatte das nachgeschaut, weil ich Frederic Joliot-Curie mochte. Ich kann nicht genau sagen, warum. Ich habe nur eine Ahnung, über die ich ungern reden würde. Jedenfalls trägt ein Mondkrater seinen Namen.

  Unsere Wohnung, die sich in einem renovierten Jugendstilhaus befand, das kurz nach der Jahrhundertwende gebaut wurde, schien Kerstins Erwartungen an einen Diplomatenhaushalt zu entsprechen. Isabelle genoss die andächtige Stille, mit der ihre Mutter den Salon, das Wohnzimmer und das Esszimmer durchschritt und aus dem Erker raus in den Park sah. Eine Minute wirkte es, als genügte Isabelle den Ansprüchen ihrer Mutter, dann drehte sich Kerstin um und fragte: „Wo ist denn nun der Kühlschrank, Bella?“

Ich habe nie ganz verstanden, woher dieses Selbstbewusstsein kam. Meine Eltern hatten ein Haus in Frohnau, um das ich sie wirklich nicht beneidete, aber es gab da eine Garage mit drei Stellplätzen und ein überdachtes Schwimmbad. Kerstin wohnte in einem Plattenbau an der Greifswalder Straße, dritte Etage. Neunzig Prozent ihrer Nachbarn waren Rentner, und doch tat sie so, als lebte sie im Herzen der Prenzlauer Berger Boheme. Sie war seit zwei Jahren im Vorruhestand, wovon sie sich ausruhte, war nicht so einfach zu sagen. Sie war lange eine Muse gewesen, wenn ich das richtig verstanden hatte, zuletzt hatte sie in Teilzeit eine Tanzgruppe für Kinder aus schwierigen Verhältnissen in Weißensee betreut. Sie war seit fünfzehn Jahren in psychotherapeutischer Behandlung und redete darüber, als sei das eine Art Fortbildung. Sie gab den Namen des Vaters von Isabelle nicht preis, informierte uns aber von Zeit zu Zeit über den Kandidatenkreis. Maler, Musiker, Regisseure, die mir allesamt unbekannt waren. Sie erwähnte ab und zu Sartre und Simone de Beauvoir, aber ich hatte sie nie lesen sehen. Sie war sechzig Jahre alt und unterschrieb ihre Briefe und Nachrichten immer nur mit K, als wäre sie eine literarische Figur. Ich nahm an, ihr Name erschien ihr zu alltäglich, verglichen mit ihrem Temperament. Manchmal stellte sie sich als Catherine vor, manchmal als Chris.

  Nebenbei gesagt, entsprach sie ziemlich genau meinen Vorstellungen von einer Impfgegnerin, hatte aber bereits vor zwei Monaten ihren Boostershot bekommen. Von Annalena, wie sie sagte, offenbar eine Ärztin, sicher war das nicht. Isabelle jedenfalls kannte keine Annalena, wollte aber auch nicht fragen, weil sie die Geheimnistuerei ihrer Mutter hasste. Kerstin ließ gern Namen fallen, die niemand kannte, man musste ständig nachfragen. Für mich entsprach es dem Konzept aller ostdeutschen Erzählungen. Ich fühlte mich in ihnen wie in einem dunklen Märchenwald.

  Kerstin stand nun also in unserer Küche, öffnete einen Schrank nach dem anderen, um nach einer „Platte“ zu suchen, auf der sie ihre Sülze „anrichten“ konnte.

  „In Bulgarien isst man am Heiligen Abend kein Fleisch, Mama“, sagte Isabelle.

  „Wir sind doch hier praktisch auf dem Boden der Bundesrepublik, oder?“, sagte ihre Mutter, warf eine Schranktür zu und öffnete eine andere.

  Ihre Mitbringsel waren dazu da, die Ordnung zu stören. Zu unserem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest in Kreuzberg hatte Kerstin zwei Tetra Paks irgendeiner alkoholhaltigen Getränkemischung beigesteuert, die sie in unserer Küche aufwärmte. Es war grauenhaft, sehr süß und sehr hochprozentig. Weil meine Eltern das Zeug demonstrativ nicht anrührten, trank ich – ebenfalls demonstrativ – drei Tassen und konnte am Heiligen Abend keinen klaren Gedanken fassen. Ich war paralysiert. Durch einen Schleier nahm ich spöttische Aufforderungen von Kerstin wahr, nun doch auch mal etwas zu sagen.

  Die anderen Gäste fanden sie oft sehr amüsant.

Wir hatten Jan-Peter und seinen Freund Mark zum Heiligen Abend eingeladen sowie Debbie und Jerry. Jan-Peter leitete das Goethe-Institut Sofia, Debbie war eine Kollegin von der amerikanischen Schule, Mark und Jerry waren mitreisende Ehemänner wie ich. Es würde wieder nicht besonders christlich werden.

  Jan-Peter und Mark waren schwul, Debbie und Jerry jüdisch, Isabelle und Kerstin ostdeutsch. Ich befand mich in der Diaspora, sozusagen. Ich war in meiner Jugend Ministrant gewesen, hatte Isabelle aber standesamtlich geheiratet. Im Rathaus Pankow, weil das für Kerstin am bequemsten war. Die Brautmutter war in einem lila Samtkleid aus der 88er-Kollektion des „Mode Circus“ erschienen, dazu trug sie eine weiße Federboa und eine goldene Kappe. Die Leute auf dem Bürgersteig hatten sich nach ihr umgedreht, nicht nach Isabelle.

  Ich legte das Weihnachtsoratorium auf, trank einen Schluck Champagner und dachte daran, wie meine Eltern jetzt zur Christmette nach St. Hildegard aufbrachen, in Frohnau. St. Hildegard war keine beeindruckende Weihnachtskirche, verglichen aber mit unserem Sofioter Wohnzimmer, in das Kerstin gerade die Platte mit ihrer Berliner Schweinesülze trug, ein Dom.

  Immerhin roch es noch leicht nach dem bulgarischen Weihnachtsbrot, das Isabelle gebacken hatte. Pitka. Ein Hefezopf, in dem eine Silbermünze versteckt war. Wer sie fand, hatte Glück im nächsten Jahr.

  „Kannst du diese Musik ein bisschen runterdrehen, Tillmann“, sagte Kerstin und hielt, nachdem ich das gemacht hatte, eine kleine Rede, in der es zunächst um einen bulgarischen Geiger namens Gogow ging. Aber auch um den Goldstrand von Nessebar, den Kerstin offenbar vor 38 Jahren mit einem Begleiter namens „El Funki“ unsicher gemacht hatte, ihre vielversprechende Tochter Isabelle, „die heute die Möglichkeiten auslotet, die ich leider nie gehabt habe“, sowie die Arbeit an der Schweinesülze, die sie vor zwei Tagen in ihrer Berliner Küche begonnen hatte. Weder das Jesuskind noch ich spielten eine Rolle in der Weihnachtsbotschaft meiner Schwiegermutter. Dafür erfuhr die Gesellschaft, dass es in Berlin inzwischen fast unmöglich war, einen Schweinefuß zu bekommen. Kerstin stellte sich als Chris vor.

  Jan-Peter übersetzte die Rede leise für Debbie und Jerry ins Englische.

  Sie sahen sich an, verunsichert. Schweinefuß?

  „What do you need a pig foot for, Chris?“, fragte Jerry.

  „Man kocht ihn aus, damit es schön geliert“, erklärte Kerstin.

  „For gelling“, sagte Jan-Peter.

  „Es ist das Bindegewebe“, sagte sein Lebensgefährte Mark, der fünf Semester Medizin studiert hat, aber das übersetzte Jan-Peter nicht. Debbie sah unsicher auf die Sülze, die in der Mitte des Tisches stand wie eine Opfergabe.

„Es gibt aber sonst ausschließlich bulgarisches Weihnachtsessen“, sagte Isabelle. Reisgefüllte Weinblätter, Bohnensalat, Pitka. Und zu Deb und Jerry gewandt: „No meat. No pork.“

  „Schopska!“, rief Kerstin.

  Sie hatte in letzter Minute, als sie die traditionellen kleinen Gerichte gesehen hatte, die hier am Heiligen Abend serviert wurden, entschieden, noch eine eindeutige Note hinzuzufügen, den Schopskasalat. Das war alles, was sie von Bulgarien kannte, mal abgesehen von dem bulgarischen Geiger und von „El Funki“, einem Köpenicker Maler mit einem, wie sie, während sie Zwiebeln hackte, erklärte, „Riesenpinsel“.

  Kerstin fand dann die Silbermünze im Glücksbrot. Ein 2-Lewa-Stück aus dem Jahr 1891, Kurswert 15 Euro. Ich hatte es über Ebay organisiert. Kerstin lächelte, als habe sie damit gerechnet.

  „Was wünschst du dir, Chris?“, fragte Mark.

  „Ein Enkelkind“, sagte Kerstin.

  Ich aß von ihrer Schweinesülze und stopfte Weihnachtsbrot und Schopskasalat in mich hinein, um ein guter Sohn und Schwiegersohn zu sein. Wir tranken alle schnell, um zu vergessen, wie fremd wir uns waren. Jan-Peter würde irgendwann zu seiner Standardrede ausholen, in der er sich beklagte, dass die schwulen Mitarbeiter des Goethe-Instituts immer in die beschissensten Länder geschickt wurden. Er hatte bereits fünf Jahre Nigeria hinter sich. Ohne Mark. Die beiden Männer hingen Kerstin an den Lippen, die vom „Mode Circus“ erzählte und von El Funkis Pinsel. Ich hörte das Kichern von Jan-Peter. Nach dem Essen trug ich die Teller in die Küche, stellte etwas von dem feinen Rotwein auf den Tisch, den Mark und Jan-Peter bei jungen bulgarischen Winzern im Süden gekauft hatten.

  Kerstin beobachtete mich aus dem Augenwinkel und fragte: „Gibt’s och Kadarka?“

  Ich lächelte sie ahnungslos an und ging mit Jerry auf den Balkon, um einen Joint zu rauchen.

  „Your mother in law“, sagte Jerry und blies den Rauch in die Nacht.

  „Yes?“, sagte ich und zog meinerseits.

  „She’s a character“, sagte Jerry.

  „Couldn’t agree more“, sagte ich und dann bekam ich plötzlich einen Lachanfall. Ich dachte an meine Eltern, die in dieser Kirche in Frohnau, die aussah wie ein Ausflugslokal von Neonazis, „Kommet Ihr Hirten“ sangen, an den ehemaligen saarländischen Außenminister, der jetzt jeden Morgen seiner Frau die Lage der Uiguren und Ukrainer beim Frühstück erklärte, an die Schweinesülze und den bulgarischen Fußballer, der das Tor gegen die Deutschen geschossen hatte, als ich noch ein Kind war, in Hamburg. Ich hatte, im Sommer ’94, einen Abend lang geweint, weil die deutsche Mannschaft aus dem WM-Turnier geflogen war, durch das Tor eines glatzköpfigen Bulgaren, der für meinen Lieblingsverein spielte, den HSV. Ich verstand das einfach nicht, es war eine Ungeheuerlichkeit, und mein Vater, der damals schon in Berlin arbeitete, konnte mir das nicht erklären. Ich kam nicht auf den Namen des Hamburger Bulgaren. Ich lachte immer noch, weil ich den Eindruck hatte, dass der alles zusammenhielt. Mich und Sofia. Ich war ganz kurz davor, das Welträtsel zu knacken. Ich sah Jerry an, dass es ihm ähnlich ging. Sein Gesicht war ganz nass. Pig foot.

  Jerry kam aus Albuquerque, New Mexico, und arbeitete seit zehn Jahren an einem Buch über den Wasserrückgang im Colorado. Ich hatte nie richtig verstanden, wie er das hier in Bulgarien hinbekommen wollte, und ich glaube, er wusste es auch nicht so genau. Es war gar nicht wichtig. Ich war ja auch kein Lehrer, nur Deutscher.

  Als wir wieder zu den anderen gingen, beendete Jan-Peter gerade seine Klage über das homophobe Goethe-Institut.

  „Nach Paris oder San Francisco kommst du nur mit Kindern“, rief er.„Haste gehört, Tillmann“, rief Kerstin zu mir. „Kinder!“

  Ich sah zu Isabelle, die sah auf ihre Serviette. Ich hatte eine Antwort parat, aber als ich den Mund öffnete, war sie weg. Dafür fiel mir ganz plötzlich der Name des bulgarischen HSV-Spielers ein, der 1994 die deutsche Nationalmannschaft aus der WM geschossen hatte. Jordan Letschkow. Auch gut.

  „Letschkow“, sagte ich.

  Alle sahen mich an.

  „Es heißt Letscho“, sagte Kerstin.

  „Was?“, sagte ich.

  „Letscho. Ohne W. Schweinesteak mit Letscho zum Beispiel“, sagte meine Schwiegermutter. Mark übersetzte für Deb und Jerry.

  Ich hätte das Missverständnis gern aufgeklärt, aber das erschien mir nicht möglich, es war alles zu groß geworden. Ich schwieg erst mal. Jerry flüsterte Deb irgendwas ins Ohr, sie zuckte mit den Schultern, Isabelle räumte leere Flaschen raus, und Kerstin schloss mit Marks Hilfe ihr Handy an unsere Lautsprecherbox. Sie wirkten beide ziemlich betrunken, bekamen es aber hin.

  „So“, rief Kerstin. „Georgi Gogow. Der Teufelsgeiger.“

  Man hörte aber keine Geige, man hörte Gitarren, ein Schlagzeug und eine heisere Stimme. Es klang wie das Gegenteil eines Weihnachtsliedes, wenn es denn so etwas gab. Kerstin hob einen Arm und sang den Refrain: „Und in seinen Gedanken ist er der King vom Prenzlauer Berg.“

  Als es vorbei war, zog eine angenehme Stille ein, in die Kerstin rief: „Dit meinte ick aber nich.“

  Sie fummelte an ihrem Telefon, schließlich fand sie ein Lied mit Geige, das mir auch bekannt vorkam. Es hieß „Am Fenster“, war sehr lang und wirklich ganz schön, auch wenn der Text mir völlig rätselhaft war. „Klagt ein Vogel, ach auch mein Gefieder, nässt der Regen, flieg’ ich durch die Welt.“

  Alle tanzten, ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Isabelle Schnapsgläser mit Mastika füllte, dem bulgarischen Anisschnaps. Der Rausschmeißer. Morgen war auch noch ein Tag.

  „Auf Isabelle!“, rief Kerstin, als das Lied endlich vorbei war. „Flieg ich durch die Welt!“

  Wir hoben unsere Gläser. Isabelle lächelte, trank aber ihr Glas nicht aus. Kerstin holte Luft und ich dachte, dass sie uns nun endlich verraten würde, wer Isabelles Vater war. In der Heiligen Nacht von Sofia. Der Teufelsgeiger? El Funki? Heiner Müller? Aber sie erzählte dann nur, dass sie ihre Tochter nach Isabelle Huppert benannt hatte. Immerhin war auch das neu für mich. Isabelle wurde ein bisschen rot.

  „Die Spitzenklöpplerin“, sagte Kerstin und lächelte.

  Es war sicher eine bedeutende Anspielung, aber ich verstand sie nicht. Ich begriff allerdings, dass ich den Namen meines Schwiegervaters nie erfahren würde. Es war Teil des Spiels. Der Familienaufstellung. Der Weihnachtsgeschichte. Es war Kerstins Krippenspiel.

„Ich glaube, ich bin schwanger, Till“, sagte Isabelle, später, als wir wieder allein waren. Sie weinte, obwohl es ja eine gute Nachricht war. Ich sah sie an, tausend Fragen im Kopf. Zunächst überlegte ich, wann wir eigentlich zuletzt miteinander geschlafen hatten. Ich konnte mich nicht an bulgarischen Sex erinnern, aber ich war auch ziemlich hinüber. Der Wein, die Schweinesülze, der Joint, der Ostrock, Mastika. Dann dachte ich an Henning Hoffmann, den Schönling aus der Konsularabteilung, und an den Erzengel Gabriel. Gleichzeitig. Henning Hoffmann mit Flügeln. Klagt ein Vogel, ach auch mein Gefieder, nässt der Regen.

  Vielleicht war ich Josef in dieser bulgarischen Weihnachtsgeschichte. Der Zimmermann aus Judäa. Der mitreisende Ehemann Marias. St. Josef, am Ende. Vielleicht war das meine Rolle. Damit könnten auch meine Eltern leben, dachte ich. In Frohnau.

  „Das Glücksbrot hat funktioniert“, sagte ich.

  Ich sah auf Isabelles Bauch. Ich dachte daran, ihn zu berühren, wagte es aber nicht.