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Bücher: Ein wahres Kleinod: George Saunders “Herzlichen Glückwunsch übrigens”

Foto: Jabs

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Untertitel: Ein paar Gedanken zur Güte
 
Ein alter Sack, der die spannendsten Tage seines Lebens schon hinter sich hat, will den Jungen, die das Schönste noch vor sich haben, altersbedingt gewonnene Weisheiten aufzwingen. 
Es handelt sich um eine ungewöhnlich kurze Rede des so klugen und lebenserfahrenen Mannes, die dieser für eine Gruppe von jungen, brillanten Menschen, die gerade ihr Studium beendeten, zum Besten gibt. 
Es beginnt mit einer ewigen Frage: “Was würdest du in deinem Leben anders machen, wenn du heute die Möglichkeit hättest, einen anderen Weg zu gehen?” 
 
Dazu möchte ich anmerken, dass  ich die Antwort: “Also ich würde nichts anders machen” nur selten verstehe. 
Ich weiß nämlich wirklich nicht, ob ich überhaupt etwas noch mal so machen würde, wie damals. Schon als Schüler überlegte ich, wie ich die Mädels aus meiner Klasse auf mich aufmerksam machen könnte. Ich war weder der größte, noch der schönste oder lässigste. Also versuchte ich, die süßen Jungfern zu beeindrucken, indem ich fleißig lernte und den Anschein von Klugheit erweckte. Fazit: Ich galt als Streber. Dann begann ich intensiv zu trainieren, um als guter Sportler zu begeistern. Fazit: Mein Talent entsprach nicht meinem Anspruch. Dann ließ ich die Haare wuchern, um auszusehen wie die Idole aus dem Beat-Club. Fazit: Die flotten Feger aus der Klasse unter mir meinten nur, ich ähnle einem Fußballer von Hansa Rostock und nicht Jim Morrison. Die Namen der angebeteten wunderschönen blonden, schlanken, langbeinigen Zuckerschnuten verschweige ich bis heute. Die Liebe zu meinen guten Freunden blieb hingegen zeitlebens nicht unerwidert. Wobei sie genauso platonisch war, wie die zu den Mädchen.   
 
George Saunders erklärt in seinem kleinen Büchlein auf unglaublich eindrückliche Weise, worauf es im Leben eigentlich ankommt
Es geht schlicht darum, GÜTE zum Mittelpunkt seines Daseins zu machen. Nun ist dieser Begriff in seiner Bedeutung nicht glasklar, vielleicht sogar etwas schwammig. Wenn man Güte als Nächstenliebe begreift, könnte man diesen Lebensplan als christliches Ideal definieren. Aber vielleicht geht es um noch mehr: Ist Güte vielleicht nur friedvolles persönliches Existieren und inneres Wirken? Vielleicht geht man dabei nicht mal aktiv auf andere Menschen, wie bei der Nächstenliebe, zu? Ich habe vor vielen Jahren einen so großherzigen Menschen, eine Diakonisse aus West-Berlin,  kennengelernt, der man nur noch nacheifern wollte – es hat leider nicht vollständig geklappt. 
Jedenfalls fiel ich wenigstens nicht auf dem Gegenentwurf der puren Güte herein. Er besteht wohl  in der anscheinend dominierenden Lebensmaxime: Erfolg im Beruf, materieller Besitz, Selbstverliebtheit und Spaß ohne Unterlass haben. Wobei dieses Streben materiellen Reichtum, das Verreisen und lustige Feiern mitnichten ausschließt. Ganz wichtig: Haltet die Augen offen, lernt Menschen kennen und vor allem: verliebt euch! Aber im Alter werden solche Ideale ohnehin immer unwichtiger. Wenn Kinder den Alltag bereichern, verschieben sich die Wertigkeiten. Ich will nicht mehr Olympiasieger werden – ja, ich kann es gar nicht, konnte es noch nie. Mit dem Alter wird man etwas milder, der Egoismus schwindet zusehends. Man nimmt sich nicht mehr so wichtig. Ob ich noch einen Kalender erarbeite, noch so schöne Ideen umsetze oder in der Alte-Herren-Bezirksklasse ein paar Gegentore verhindern könnte, ist nichts gegen das faszinierte Lächeln eines Enkels beim gemeinsamen Geschichten erzählen. Wenn er sich meiner als ein gütiger, liebevoller Großvater erinnert, ist es mir Lohn genug!    
Ich glaube fest, dass es uns glücklicher machen würde, wenn Güte der erstrebenswerte Mittelpunkt der Menschheit würde. 
Mir ist aber selbstverständlich vollkommen klar, dass das eine totale Utopie ist, reine Träumerei.
 
George Saunders schuf ein wunderbares Stück Literatur. Wer das nicht liest, ist…
 

Zitate: 

“Wir sind es uns schuldig, das Beste aus uns zu machen.”
“Vermeidet alles, was euch klein und gewöhnlich macht. Dieser leuchtende Teil von euch, der über eure Persönlichkeit hinausgeht – nennen wir ihn mal Seele -, kann so hell und klar leuchten wie nichts sonst auf der Welt.”

Bücher, Fussball: Campino: “Hope Street”

Foto: Jabs

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“Es geht um mehr als nur Leben und Tod”
 
Campino schafft es in der Tat, zu erklären, wie die glühende Liebe zu einem Fußballverein funktioniert. Gerade der bewundernswerte, beinharte Fan des FC Liverpool taugt als ein prädestiniertes Beispiel für ein verrücktes Leben eines Anhängers einer Mannschaft, die auch ich sehr verehre. Einem völlig normalen Menschen zu vermitteln, wie ein Fußballfan tickt, ist übrigens ein Ding der Unmöglichkeit. In dieser Erzählung erahnt man nebenher auch, welche Magie dieser wunderschöne Ballsport entwickeln kann. Das verspüre auch ich ab und an​, nein: viel zu oft​
Im Laufe meiner Lebensjahre ist mir der Sänger der Toten Hosen eigentlich noch sympathischer geworden, als er es als uriger Punk schon immer war. 
Mit diesem Buch habe ich aber ein paar Probleme. Mir stockt der Erzählfluss zu oft. Campino streut ununterbrochen nebensächliche Informationen in den Text, die einfach uninteressant sind: Wer was aß und trank, wo saß, was anhatte, wohin blickte…
Lesenswert ist die frühe Familiengeschichte der Freges in Düsseldorf, Metzkausen und Cornwall. Zu viele Details machen diese Berichte aber dann doch etwas langweilig.
Das Reisetagebuch Campinos finde auch nicht gerade spannend. Er berichtet von Filmaufnahmen an den Drehorten von Wim-Wenders-Filmen in Nordamerika, bei denen er Kommentator war, dann schaut er sich in Großstädten wieder die Spiele seines Herzensvereins an, um sogleich wieder nach Europa zurück zu fliegen – nach Frankfurt/M., aber sofort weiter nach Neapel, um dort ein Champions-League-Duell zu besuchen. Seine wohl eher vernünftige Frau ermahnt ihn für solche Aktionen regelmäßig. Und das schlechte Gewissen äußert sich darin, dass Campino doppelte “Kompensationsgebühren” für die Flüge bezahlt. Er glaubt so, ein bisschen zu einem aktiven Umweltschützer zu werden. Man fliegt zu den Spielen und rettet nebenbei die Welt dabei ein bisschen. Mir erscheint es dekadent, dass man in einer Arbeitspause mal eben von was weiß ich wo nach Manchester fliegt (dahin gehen wohl die meisten Flüge von Deutschland nach England), um mit dem Taxi weiter nach Liverpool zu düsen, sich dort das Spiel ansieht, dann auf Einladung des Vereins oder des Teammanagers Klopp sich auf der eventuellen Siegesfeier in intimen Rahmen des LFC vergnügt und schließlich mit dem Sohn des Trainers zum Anwesen der Familie Klopp kutschiert, um dort den einen oder anderen Absacker zu nehmen. Des Nachts fährt man in das Hotel am Airport Manchester zurück.     
Die Spielberichte der Saison 2019/20, in der die Elf von Anfield endlich wieder Meister wurde, sind heute nur noch für eingefleischte LFC-Fans von Belang. 
Für die geneigten Fußballliebhaber liefert Campino interessante Interna aus dem Umfeld des LFC, sie kommen bei der Lektüre durchaus  auf ihre Kosten. Er ist doch eng mit der Familie Jürgen Klopps befreundet, ist Kumpel und Trauzeuge Sami Hyypiäs, kennt Markus Babbel, Jerry Jeremies, Peter Crouch, Jerzy Dudek, Didi Hamann und Kalle Riedle gut. 
 
Dennis Scheck hat “Hope Street” in seiner Literatursendung “Druckfrisch” für mich überraschend über den grünen Klee gelobt​. 
Anm.: ​Bei dem Buch stört es mich, dass die für den Schutzumschlag und den Leineneinband verwendete rote Farbe nicht das Rot des LFC ist, sondern eher ein Orange. 
PS: Ich würde Campino gern die Frage stellen: Ist es nicht viel leichter ein Buch zu schreiben, wenn man nicht vom erfolgreichen Verkauf desselben abhängig ist? Er ist da sicher kein allzu großes Risiko eingegangen, da er finanziell bestimmt nicht darauf angewiesen ist. Zumal er davon ausgehen kann, dass die Toten-Hosen-Fans diesem Lietaturversuch garantiert wohlwollend entgegenkommen.       
 
 
Die Toten Hosen (1994): Long way from Liverpool
 
My heart it gets so heavy
by the end of May,
but when it gets to August
you know I’ll feel okay.
I didn’t choose to be born here, 
it’s just a freak of birth,
but before I die here
I wanna kiss that turf. 
 
Cause it’s a long, long way from Liverpool,
where the boys go crazy and the girls are cool, 
and no one sings like the Kop can do. 
We love you. 
 
The bread’s on the table,
the car’s in the drive.
but I don’t wanna stay here,
I just wanna survive. 
I know I’ll never walk alone
and my favourite colour’s red,
as long as I’m so far away
I may as well be dead.
 
 
Zitat Jürgen Klopp auf seiner ersten Pressekonferenz in Anfield: “Es ist nicht wichtig, was die Leute denken, wenn du kommst. Es ist wichtig, was die Leute von dir denken, wenn du gehst.”


 
 
 

Bücher, Musik: “True Faith”

Foto: Jabs

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Unser Sportfreund Axel Mewes beherrscht nicht nur die englische Sprache und das geliebte runde Leder…
 

Axel Mewes – Wahrer Glaube 

New Order „True Faith“

(in: Ich liebe Musik Vol. 2, Hrsg. Jörg Hiecke & René Seim)

   Eine Freundin hat mir mal von ihrer Beobachtung erzählt, dass Männer – anders als Frauen – diese eine große Liebe hätten. Die sie bis zum Ende ihrer Tage im Herzen tragen, ganz gleich, was in ihrem Leben passiert. 

 Sie hat recht. Wobei es bei mir und der Musik ein bisschen komplizierter ist. 

 Das erste Kribbeln in den Trommelfellen spürte ich im Alter von 10 Jahren. Meine große Schwester besaß einen Kassettenrekorder; irgendwann öffnete sich ihre Zimmertür, hinter der „Equinoxe” von Jean-Michel Jarre lief. Ein andermal nuschelte Udo Lindenberg durchs Sternholzimitat, „Live Rust” von Neil Young war gerade erschienen, Mark Knopfler zupfte die „Sultans of Swing”. 

 Anfänge des musikalischen Jugendlebens, während samstags nach der Schule Mutter die Fenster zu Lord Knuds „Evergreens à Go Go” vom RIAS Berlin putzte. Was auch irgendwie fetzte, weil die Frau, der ich für den Rest meines Lebens den Satz „Fürs Tanzen hätte ich das Vaterland verraten!” zuschreiben werde, die Gassenhauer lauthals fröhlich mitsang und in meiner Erinnerung samstags IMMER die Sonne schien. Wochenend’ und Sonnenschein. Und Musik. 

 Bis zur großen Liebe sollte es noch ein paar Jahre dauern, denn auch in musikalischer Hinsicht war ich ein Spätentwickler. Durch die Pubertät halfen mir – seit der Jugendweihe unterstützt durch einen eigenen Babett-Rekorder – Nenas erste beiden Platten und ab 1983 Depeche Mode. Ansonsten nahm der Kleinstadtjunge popkulturell alles mit, was die Achtziger zu bieten hatten – mit voller Verachtung für die Machenschaften von Dieter Bohlen und Michael Cretu selbstverständlich! 

 New Wave statt Rock und Blues, Trevor Horn statt Stock Aitken Waterman. 

   Ich war ein artiger Junge, meine Freizeit bestand an fünf Nachmittagen die Woche aus Training, am sechsten aus Bolzen mit Freunden und dem Spiel am Sonntag. Personen bzw. Umstände, gegen die es sich vor 1989 zu revoltieren lohnte, gab es jenseits nervender Lehrer und konditionsbesessener Fußballtrainer für mich wenig. Das bisschen Zeit, das übrig blieb, gehörte der Musik. 

 Dabei wurde allerdings immer klarer, dass diese nur deshalb auf dem zweiten Platz meiner Freizeitaktivitäten gelandet war, weil der Sport keine Nebenbuhlerin duldete. Es gibt nicht viel, was ich im Rückblick auf meine Jugend anders machen würde, wenn ich es könnte. Dass ich zweimal die Woche Training gegen das Erlernen eines Musikinstruments tauschen würde, gehört dazu. 

 Da Schule und Sport zwei völlig unterschiedliche Welten ohne personelle Überschneidungen waren, hatte ich zwar reichlich Klassen- und Mannschaftskameraden, mit denen ich auch gut zurechtkam, aber keine wirklichen Freunde. Ich verbrachte einfach zu wenig freie Zeit mit ihnen. Dasselbe galt für meine Familie, die ich eigentlich nur zu den Mahlzeiten an den Rändern des Tages und die eine Stunde bis zum Schlafengehen sah. 

 Ich vermute, dass die Musik deshalb früh den Platz des besten Freundes und später den der ersten Freundin einnahm. Sie war da, wenn ich sie brauchte. Sie kümmerte sich um mich, sie gab mir Kraft, Anerkennung und Trost, und sie erzählte mir die Geschichten, die mir sonst niemand erzählte. 

 Sie war die Erste, für die ich etwas Besonderes empfand. 

 Depeche Mode raubten mir die musikalische Unschuld und ließen mich dann zehn Jahre nicht los, obwohl es nach dem ersten Rausch eine Menge neuer Beziehungen gab. Heute schaue ich mit wohlwollender Gleichgültigkeit auf die hyperventilierenden DeMo-Aficionados, die der Band auch im fortgeschrittenen Alter noch auf Ihren Europa-Gigs hinterherfahren. 

 Ich höre in neue Alben gern mal rein, aber wenn ich mal ein paar Minuten für Musik habe, bleibe ich beim Scrollen durch meine Phonothek selten bei ihnen hängen. 

 Zum Spätentwickler passte, dass ich bereits 16 war, als ich zum ersten Mal eine öffentliche Disko betrat. Es war die Zeit der sehr bunt bemalten Mädchen mit sehr hochtoupierten Haaren und der Jungs in Schiedsrichterhemden mit schwarzen Lederkrawatten. Berlin war nicht weit weg, im Club liefen „Our Darkness”, „Fade To Grey” und „Tainted Love”. 

 Und: „Blue Monday”. 

 Der Song bedeutete mir nichts. Neil Tennant von den Pet Shop Boys hat mal von seinem Erweckungsmoment beim Hören des Stückes gesprochen und wie sehr dieser elektronische „Umpta-Umpta, Umpta-Umpta, Umpta-Umpta” Rhythmus das gewesen sei, was sein Mitstreiter Chris Lowe und er immer hatten machen wollen. Mich ließ der harte, leere elektronische Sound sprichwörtlich kühl. Kein Gefühl. Das unnahbare schöne Mädchen an der Bar, von der du spürst, dass sie eine Nummer zu groß für dich ist. 

 Die coolen Jungs in meinem Freundeskreis wussten damals schon, dass New Order, die hinter „Blue Monday” steckten, aus der Asche einer musikalisch deutlich anderen Band entstanden waren. Das machte mich neugierig auf Joy Division, zu denen ich allerdings erst Zugang fand, als die Zeit für den Austausch tief enttäuschter Blicke auf dem Betriebsberufsschulhof gekommen war. 

 Da Traurigsein und Singen für einen grundsätzlich optimistischen Heranwachsenden auf Dauer doch zu anstrengend sind, war es irgendwann dann auch mal gut mit der Depression. Es dauerte zwar noch Jahre, bis sich auf meinen Mixed Tapes fröhliche Songs fanden, aber vielleicht habe ich den verletzungsfreien Abschied von „Unknown Pleasures”, „Floodland” und „Disintegration” nicht zuletzt New Order zu verdanken, die sich nach dem traurigen Ende von Joy Division mit den Jahren häuteten und sich in meinen konfusen, aber letztlich doch lebensbejahenden Zeiten als junger Erwachsener in mein musikalisches Herz spielten. 

 Das Verliebtsein war in vollem Gange, wechselnde Beziehungen im Albumveröffentlichungstakt: Vorfreude, Jubel, Enttäuschung und die nächste bitte. Von der einen großen Liebe keine Spur – und doch kamen sie beide am Ende dann noch zusammen. 

 Als die mit den grünen Augen mich verließ, gab sie mir zum Abschied die Compilation „Heart and Soul” in die Hand, die sie sich gekauft hatte, weil wir an zwei verschiedenen Orten lebten. „Es sei die Deine”, sagte sie und brach mir das Herz. 

 Es gibt natürlich kaum bessere Musik, um sich in seinem Unglück zu suhlen als Joy Division, aber als ich den Kopf so langsam aus der Schlinge bekam, wurde es allmählich hell. Ich behaupte mal, dass dies 1994 der Auslöser dafür war, dass ich etwas zurückspulte und mich an New Order erinnerte. Ich hatte die frühen Platten gehört aber Schwierigkeiten mit der Metamorphose von Joy Divisions Düsterkeit zur Disko-Mucke ihrer Nachfolgeband. Als 1987 „Substance” erschien, stand mir der Sinn einfach noch nicht nach Tanzen. Die richtige Band zur falschen Zeit. Allerdings waren mir der Elektroniksound, Peter Hooks Bass und der eher dünne und vielleicht gerade deshalb unverwechselbare Gesang von Bernard Sumner in Erinnerung geblieben. Und ich wurde langsam erwachsen – Disko ging und selbst Lachen auf der Tanzfläche war erlaubt. 

 Mit siebenjähriger Verspätung hörte ich mir „Substance” schön und irgendwann blieb ich immer wieder beim letzten Song der ersten CD hängen. Wie bei einer Menge anderer Bands, deren größte Erfolge selten auch meine Lieblingssongs sind, ging und geht es mir mit New Order. „Blue Monday” finde ich mittlerweile OK aber sollte ich noch einmal in die Lage geraten, mir bei einem DJ einen Song zu wünschen, dann wird dies derselbe sein wie jener, auf den ich mich schon Wochen vor den raren Konzerten der Band freue: „True Faith”. 

 Es ist mein Lied, es ist perfekt. 

 Es ist Pop und Indie. 

 Es ist tanzbar, ohne Funk oder R&B zu sein. 

 Es ist ein Song, der die Dunkelheit Joy Divisions noch in sich trägt, aber auch die Aussicht auf bessere Zeiten. 

 Es ist das gelobte England fern hinter dem Eisernen Vorhang, es ist Manchester in den Achtzigern.  Es hatte die besten, fettesten Synthesizer, als ich noch Synthesizern hinterhergestiegen bin. 

 Es hat die Hook Line. (Auch wenn der Peter leider Fan des völlig falschen Fußballvereins ist!) 

 Es hat ein Video, das ein Kunstwerk seiner Zeit war. 

 Es hat eines der schönsten Plattencover aller Zeiten. 

 Es hat die beste aller New Order B-Seiten. 

 Es hat einen Text, der mit Drogen zu tun hat, aber nicht von ihnen handelt. Die erste Halbstrophe reicht mir, um mich an miesen Tagen von übler Laune zu befreien: 

I feel so extraordinary 

Something’s got a hold on me 

I get this feeling I’m in motion 

A sudden sense of liberty 

Und wie oft habe ich in Momenten, in denen lang gehegte Hoffnungen in Erfüllung gingen oder große Anstrengungen belohnt wurden, unwillkürlich lächelnd 

I used to think that the day would never come 

I’d see delight in the shade of the morning sun 

vor mich hingesummt. 

 Es macht mich sentimental, aber es hängt mir noch immer nicht zum Halse raus. Es erinnert mich. Es ist mit mir älter geworden und ich liebe seine Falten. Es ist meins. 

 Es ist Liebe. Die eine – für immer. True Faith.

Bücher: Sehnsucht

Foto: Jabs

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Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh’ ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! Der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!

Johann Wolfgang von Goethe

Bücher: Andrea Petkovic: “Wenn ein Tag nicht 28 Stunden hat, ist es dann noch ein Tag?”

Foto: Jabs

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Klar, erscheinen schöne Mädels ganz besonders sympathisch, wenn sie sprachgewandt und auch noch sportlich sind. Kommt noch Intelligenz dazu… 
In diesem insgesamt sehr professionell und außerordentlich selbstbewusst erscheinendem  Interview Andrea Petkovics gibt die Frau auf angenehme Weise Fehler und Unzulänglichkeiten zu. Außerdem bemerkt sie, dass sie sich im Verlauf des Gesprächs mitunter widerspricht. Sowas zeugt einfach davon, dass diese Tennisspielerin sehr reflektiert spricht. Das ganze Interview kann man als Hochgenuss anhören.
(Und ich erinnere mich, dass sie vor einiger Zeit mit dem schwerkranken, inzwischen verstorbenen Darmstadt 98-Edelfan Johnny Heimes (“Du musst kämpfen”) befreundet war.)
Zitate A. Petkovic:
“Ich muss andere Wege finden, um zufrieden, um glücklich zu sein… Jetzt bin ich soweit zu sagen, ich kann im Prozess selbst Glück finden und ich kann in einem Spiel, das ich verliere, Zufriedenheit finden… Oder ist es schlicht und ergreifend der Körper, der mich im Stich lässt?… Jetzt habe ich den ​G​eist, der mich weit bringen könnte, aber mein Körper lässt mich im Stich. Das ist, was ich meine: Gott hat Humor.”
“Ich bin in dieser privilegierten Situation, weil ich eben irgendwie dazu gehöre. Und es ist so frustrierend, weil andere vielleicht genauso talentiert oder vielleicht mehr talentiert sind als ich. Und dann besitzen sie eben nicht dieses Netzwerk wie ich. Nicht dieses Privilegiert​s​ein, nicht die Möglichkeiten, nicht nur die finanziellen, sondern alles, was dieser Rattenschwanz, der damit einhergeht, bedeutet.” 
“Das ist natürlich auch wahnsinnig arrogant. Das Einzige, das ich zu meiner Verteidigung sagen kann ist, dass ich mir alles sehr hart erarbeitet habe, was ja auch jeder sagt.”
 
Die Fau spielt hervorragend Tennis, hat ein Buch geschrieben, moderiert im ZDF auch die Sportreportage und war Gast im Literarischen Quartett (https://www.zdf.de/kultur/das-literarische-quartett/petkovic-zu-delillo-ltq-100.html).

Bücher: “Machandel” von Regina Scheer

Foto: Jabs

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Ein genüsslich zu lesender Roman. Den Zeitreisen Regina Scheers zu folgen macht viel Freude. Geschichte wird anschaulich.
Die Autorin vermag das Dorfleben Mecklenburgs in den Achtzigerjahren treffend zu beschreiben. Da machten es sich Berliner Künstler und Intellektuelle dort ganz gemütlich. Die geschilderten und beleuchteten Verhältnisse, Intrigen und kleinen Geheimnisse erinnern auch an den famosen Film “Das weiße Band” von Michael Haneke.
Zitate: “Man muss nicht in einer großen Stadt leben. Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen. Clara hat immer viel gefragt, aber so sind wir hier im Norden nicht, wir reden nicht viel. Man sieht doch alles.”
“Aber Glück… Was ist Glück? Solche großen Worte haben wir hier oben nicht für das Leben.”
Sehr treffend und atmosphärisch dicht beschreibt Regina Scheer auch die Befindlichkeiten der Zeit vor und nach der politischen Wende 1989. Man kann vielleicht langsam verblassende Erinnerungen auffrischen.
Zitate: ” Für eine kurze Zeit, ein paar Wochen, die mir im Nachhinein wie Jahre vorkommen, war alles in Bewegung, schien alles möglich. Wie nach einer langen Bewegungslosigkeit, die die Glieder steif gemacht hat, probierten wir das Aufstehen und Gehen, ungewohnte Bewegungen. Nicht ohne Schmerz, nicht ohne Angst, aber erstaunt, dann erfreut und schließlich wie in einem Glücksrausch begriffen wir, dass wir das Volk waren, wir selbst, und dass wir uns bewegen konnten.”
“Viele ältere und alte Lehrer waren da, die ihren Beruf liebten, sich aber dafür schämten, einem Bildungssystem gedient zu haben, dass junge Menschen verbogen, zu Opportunismus erzogen, das Feigheit belohnt und Aufrichtigkeit ausgegrenzt hatte.” 
Wenn man über die jüngste Vergangenheit in der DDR schreibt, kommt man um das Thema Stasi kaum herum.
Zitat: “Die Spitzel sind ihre Opfer, denen Niedertracht und Gemeinheit abverlangt wurden, deren Schwächen benutzt wurden, die in diesem Apparat ihren Halt sahen. Der Abgrund, in den die gerutscht sind, als ihre Welt zusammenbrach, muss eine Art Hölle gewesen sein. So dachte ich jedenfalls, bis mir einige ehemalige Mitstreiter begegneten, deren IM-Namen ich aus meinen Akten kannte und die taten, als wäre nichts gewesen. Ach, ich will mein Leben nicht vergiften lassen durch das Gefühl, denen ausgeliefert gewesen zu sein.”
Selbstredend wird die Sympathie für dieses Werk größer, wenn die Handlung dann auch in der eigenen Wohngegend spielt und man glaubt einige Figuren auch noch zu kennen. Esc wird sehr realistisch. Und die geschilderten Situationen kenne ich einfach, habe sie in ähnlicher Form selbst erlebt.
Nicht so spannend fand ich den Abschnitt über die persönlichen Verwicklungen eines Romanprotagonisten um die Verhaftung Ernst Thälmanns, die geradezu seziert wird. Da erschlägt mich die Summe der historischen Interna. Klar, es ist sinnvoll für die Erzählung, um den Charakter einer Figur zu beleuchten. Aber mir ist das einfach zu viel “Nebengeräusch”, nicht so interessant.
Das Buch bereitet insgesamt pures Lesevergnügen! Es liest sich sehr gut. Ist das nicht schönstes Lob?

Bücher: Gerhard Steidl wurde 70 Jahre alt

Foto: Jabs

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Ein hoch interessantes Interview mit dem Büchermacher und Verleger G. Steidl!
Die sympathische und arbeitswütige Koryphäe brachte ungefähr 5000 Fotobücher heraus!
https://mediandr-a.akamaihd.net/progressive/2020/1119/AU-20201119-1312-3500.mp3

https://www.ndr.de/ndrkultur/epg/Verleger-Gerhard-Steidl-Druckfarbe-ist-sein-Lebenselixier,sendung1095698.html

Tipps für alle, die sich für Gestaltung von Büchern oder auch Kalendern begeistern:
für Buchseiten nicht so weißes Papier,
die schmeichelnde Haptik des Papiers ist sehr wichtig,
die Schrift darf nicht so klein und nicht so schwarz sein.
(Es gibt ja auch einen sehenswerten Dokumentarfilm über diesen faszinierenden Mann: “How to make a Book with Steidl”.)

Bücher: Weihnachtsgedicht

Foto: Jabs

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“Einsiedlers Heiliger Abend”
Joachim Ringelnatz
Ich hab’ in den Weihnachtstagen –
Ich weiß auch, warum –
Mir selbst einen Christbaum geschlagen,
Der ist ganz verkrüppelt und krumm.
Ich bohrte ein Loch in die Diele
Und steckte ihn da hinein
Und stellte rings um ihn viele
Flaschen Burgunderwein.
Und zierte, um Baumschmuck und Lichter
Zu sparen, ihn abend noch spät
Mit Löffeln, Gabeln und Trichter
Und anderem blanken Gerät.
Ich kochte zur heiligen Stunde
Mir Erbsensuppe und Speck
Und gab meinem fröhlichen Hunde
Gulasch und litt seinen Dreck.
Und sang aus burgundernder Kehle
Das Pfannenflickerlied.
Und pries mit bewundernder Seele
Alles das, was ich mied.
Es glimmte petroleumbetrunken
Später der Lampendocht.
Ich saß in Gedanken versunken.
Da hat’s an der Tür gepocht.
Und pochte wieder und wieder.
Es konnte das Christkind sein.
Und klang’s nicht wie Weihnachtslieder?
Ich aber rief nicht: “Herein!”
Ich zog mich aus und ging leise
Zu Bett, ohne Angst, ohne Spott,
Und dankte auf krumme Weise
Lallend dem lieben Gott.