Monthly Archives: April 2020

Diverses: Franz Kafka

Foto: Jabs

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“Es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst. Bleib bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir winden.”

Ausstellungen, Fotografie: “Sichtweisen”

Foto: Jabs

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https://www.kunstpalast.de/de/museum/ausstellung/aktuell/im-augenblick

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ausstellung-sichtweisen-im-kunstpalast-duesseldorf.1013.de.html?dram:article_id=470583

https://www.wz.de/kultur/ausstellung-sichtweisen-im-duesseldorfer-kunstpalast-soll-neugierig-machen_aid-49047273

https://www.duesseldorf.de/suche/suche/news-detail/?L=0&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bnews%5D=24335&cHash=bd77ecb2b8f2cb11b58924cb1fdfa807

Bücher: Eine schöne Ostergeschichte von Alexander Osang, die in der Uckermark spielt!

Foto: Jabs

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Der Tag nach morgen
Eine Ostergeschichte von Alexander Osang

(Ich habe die Angaben Osangs für die Orte in der Uckermark “übersetzt”)
März
Ich will nicht aufs Land fliehen.
„Wir fliehen doch nicht, Adam“, sagt Verena. „Wir gehen den anderen aus dem Weg. Wir entlasten die Stadt. Die Geschäfte. Den Verkehr. Je weniger Menschen, desto einfacher ist es, Abstand zu halten.“Ich aber will die Stadt spüren, fühlen, meine Leute leben in der Stadt, meine Helden ebenfalls, meine Handlung spielt hier, und ich möchte, wenn es zu Ende geht, nicht irgendwo draußen in der Uckermärkischen (uckermärkischen) Einöde herumliegen, mein letzter Blick soll nicht auf die Stichstraße nach Sakrow (Suckow) gehen, die man vom Zimmer meines Landschreibtisches aus sieht. Ich will noch nicht sterben, aber wenn schon, dann nicht unter Bauern. Sondern in meiner Hood. Das kann ich Verena alles nicht sagen. Sie würde ihre eigenen Zweifel bekämpfen, indem sie meine lächerlich macht, fürchte ich.Deine Hood?

Durch die Schließung der Schulen sind Verena, Rosa und Ella nicht mehr an die Stadt gebunden. Auch wenn Rosa das selbstverständlich anders sieht. Sie ist fünfzehn. Ich gehe in ihr Zimmer, weil ich sie gegen meinen Willen auffordern muss, sich zu beeilen. Sie sieht mich mit aufgerissenen Augen an und sagt so leise, dass ich es nur an ihren Lippen lesen kann: „Mama, OH MY GOD.“ Ich zucke mit den Schultern, vielleicht rolle ich sogar mit den Augen. Ich sollte mich nicht mit meiner fünfzehnjährigen Tochter gegen meine Frau verbrüdern, aber es tut gut. Im Nebenzimmer summt Ella, während sie ihren kleinen Koffer packt. Den kleinen Koffer hat Rosa schon durch die Gegend geschleppt, als sie neun war. Es ist ein Geschenk meiner Mutter, die in ihrer Wohnung in Pankow eingemauert ist. Die Tatsache, dass ich meine Mutter nicht mehr besuchen darf, macht es mir leichter und schwerer zugleich. Ich rufe sie oft an, und obwohl wir weniger zu bereden haben, verstehen wir uns besser als sonst. Ella jedenfalls macht, was man ihr sagt. Ich glaube, sie mag Fragitz (Fergitz). Vielleicht nicht Fragitz an sich, aber das Konzept Fragitz. Wir haben mehr Zeit füreinander da, wir machen Brettspiele, oder sagen wir so: Die Wahrscheinlichkeit, dass wir Brettspiele machen, ist in Fragitz deutlich größer als hier. Ella ist neun.

Ich selbst kann natürlich überall arbeiten, die Frage ist nur, was eigentlich.

Katharina, meine Produzentin, sagt, dass wir so viel Stoff brauchen wie nie. Content. Wegsenden. Bingen. Eskapismus.

Netflix und Amazon, das sind die großen Gewinner der Seuche. Liest man überall. Aber sie zeigen auch nur das, was schon da ist. Das, was vor dem Virus entstanden ist. Wenn ich aber aufschreiben will, wie Leute im nächsten Herbst reden oder im nächsten Sommer, schaffe ich das nicht. Ich weiß ja nicht mal, ob sie dann noch leben. Ich schreibe keine Fantasy, keine History, ich schreibe Gegenwartsstoffe. Und natürlich höre ich in den Pausen, die Katharina am Telefon macht, dass sie auch keine Ahnung hat, ob die Krise alles verändert, wie es in den Seuchenfeuilletons heißt und in den Nachrichten. Obwohl es genau umgekehrt sein sollte: In Krisenzeiten verliere ich den Respekt vor den Propheten und Experten. Zunächst hat mich die Ansteckungskurve der Virologen an die Zeichnung aus „Der kleine Prinz“ erinnert, die die meisten Menschen für einen Hut halten, obwohl sie natürlich eine Schlange darstellt, die einen Elefanten verschluckt hat. Nach zwei Tagen habe ich dann auch auf die Kurve gestarrt wie alle anderen und gehofft, dass sie flacher wird. Aber wenn sie flacher wird, heißt das nicht, dass alles länger dauert? Die Ungewissheit? Dass ich auch im Herbst nicht weiß, wie meine Helden im Frühjahr reden werden?

Die Serie, die ich schreiben will, spielt in Berlin und Vietnam, zwei Familien, die in einem kleinen, gentrifizierten Viertel zwei Läden betreiben, zwei Familien, deren Kämpfe seit Jahrzehnten andauern, ohne dass die Leute in dem Viertel etwas davon wissen. Das ist natürlich alles durch unsere Gegend inspiriert, in der es sogar drei vietnamesische Läden gibt und dazu noch eine vietnamesische Änderungsschneiderei. Max hat mir vor ein oder zwei Jahren von einem Krieg zwischen zwei Familien erzählt, nachdem wir ein Champions-League-Spiel in der Kneipe gesehen haben, die sich direkt neben einem der Läden befand, dem, in dem eigentlich nie jemand einkauft. Die Kneipe hat inzwischen zu, der Laden nicht. Mafia, sagt Max, der viel erzählt, wenn der Tag lang ist. Aber nachdem ich gelesen hatte, dass in der Frankfurter Allee ein vietnamesischer Zuhälter vom Dach gestoßen wurde, habe ich Katharina Ende letzten Jahres die Miniserie vorgeschlagen. Sie war begeistert. Eine fremde Welt in der vertrauten Welt. So wie bei „Unorthodox“ und „4 Blocks“, bloß eben nicht mit Juden oder Libanesen. Jetzt aber habe ich keine Ahnung mehr, wie die reden werden, die Vietnamesen oder die Gentrifizierer, ich. Um ehrlich zu sein, verstehe ich langsam, dass ich nie eine Ahnung hatte, wie die reden werden. Die Vietnamesen nicht und meine Nachbarn auch nicht.

Ich versteh mich selbst nicht. So wirkt das Virus. Man verliert den Geruchssinn und den Geschmackssinn, heißt es. Ich habe auch keine Stimme mehr.

„Die Öffentlich-Rechtlichen machen einen wirklich guten Job“, hat Katharina noch gesagt. Ein Satz, mit dem sie sich in der schaukelnden Welt festhielt. Ich glaube, dass die Nachrichtenmacher genauso wenig wissen wie wir. Das Virus-Modell, das im Hintergrund der Sprecher flirrt, sieht inzwischen aus, als gehöre es dazu, eine Art Nachrichtenlogo. Es kommt immer gleich zum Anfang. Wie früher im Osten der Generalsekretär zum Anfang auftauchte, erscheint jetzt der Coronaball. Der kleine Witz am Ende der Sendung, das Lächeln, wenn sie endlich das Wetter erreichen. Das Hoch Jürgen und die Osterglocken. Zum Anfang waren die Sprecher alle in schwarz gekleidet, als sei jemand gestorben, jetzt werden ihre Sachen immer bunter und fröhlicher. Ingo Zamperoni trägt eine grüne Krawatte zum engen, blauen Anzug, als würde er eine Kindersendung moderieren. Zamperonis Zauberkiste. Irgendwann liest Judith Rakers die „Tagesschau“-Nachrichten in einem Nixenkostüm, und Claus Kleber moderiert das „heute-journal“ mit Indianerhaube, auf einem Pferd sitzend, damit wir auch mal an etwas anderes denken.       

Ich packe meinen Laptop ein und ein paar Notizbücher, in denen ich vor zwei Monaten Sachen aufgeschrieben habe, mit denen ich jetzt nichts mehr anfangen kann. Dann hole ich meine Laufschuhe. Ich habe auch in Fragitz Laufschuhe, aber ich weiß nicht, wie die den Winter überstanden haben. Momentan kann ich mir nicht vorstellen, dass im Herbst der Berlin-Marathon stattfindet, bei dem ich unter 3:45 laufen wollte. Das große Ziel in diesem Jahr. Zusammen mit der Miniserie, von der ich auch nicht mehr weiß, ob es sie geben wird. Ich stehe mit den Laufschuhen in der Diele, und für einen Moment geht mir der Lebenssinn verloren. Ich könnte mir vorstellen, die Schuhe anzuziehen, fest zuzubinden und mit Anlauf aus dem Fenster zu springen.

Verena kommt mit zwei Taschen in den Flur. Aus den Tiefen unserer großen Altbauwohnung schreit Ella: „Hör auf, du alte Hexe.“ Und Rosa antwortet: „Bitch.“

Ich steh’ da, mit meinen Turnschuhen in der Hand, und Verena sieht mich an. Ich bin mir sicher, dass sie glaubt, in dieser Szene unsere ganze Beziehung zu erfassen. Sie mit den Taschen, dem Familienplan und der ganzen Verantwortung, ich verträumt mit ein paar Turnschuhen in der Hand. Nutzlos, orientierungslos, selbstvergessen, egoman; im Alter wird das bestimmt nicht besser. Natürlich überrascht es sie überhaupt nicht, dass das Virus prozentual mehr Männer erwischt. Mich auch nicht. Ich bin Risikogruppe. Ich kann mir gerade gut vorstellen, wie der vietnamesische Zuhälter sich fühlte, als er vom Dach in der Karl-Marx-Allee fiel.

Alles, was Verena dann sagt, ist: „Adam?“

Und ich sage nur: „Ich mach schon“, weil ich schlecht erklären kann, dass ich gerade an den Berlin-Marathon gedacht habe, dann an Selbstmord, Coronatod und einen vietnamesischen Zuhälter, der vom Dach fällt.

Als wir zum Auto laufen, versuche ich, nicht nach oben zu schauen, weil ich das Gefühl habe, die Leute aus unserer Straße beobachten unsere Flucht. Die Nächsten, die gehen. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Im 17. Jahrhundert sind die reichen Londoner vor der Schwarzen Pest aufs Land geflohen, habe ich in einem der Seuchenfeuilletons gelesen. Ich glaube im „New Yorker“. Zum Einkaufen schickten sie ihre Diener in die Stadt, die die Sachen auf der Schwelle ablegten wie Amazonboten. Ich wäre lieber einer der charakterstarken, reichen alten Männer gewesen, die den Untergang der Titanic mit einem Champagnerglas erwarten, statt sich um die letzten Plätze in den Rettungsbooten zu prügeln. Im Moment komme ich mir vor wie einer der neureichen Russen, die Beatmungsgeräte bunkern. Habe ich auch in den Nachrichten gelesen, könnte aber auch aus einer Weltuntergangsserie stammen. The Day After Tomorrow. Am Ende ist es egal. Wenn das drei Jahre dauert, werden die Leute nicht mehr wissen, was sie in der „Tagesschau“ gesehen haben und was bei Showtime.

Ich bin froh, dass wir wenigstens keinen Geländewagen mehr haben. Den alten Jeep habe ich schon vor drei Jahren abgestoßen. Der war ironisch gemeint gewesen mit dem Holzfurnier an der Seite, aber am Ende hat er natürlich genauso viel Platz verbraucht wie die neuen SUVs der Soccer-Moms und noch viel mehr Benzin. Seitdem fahren wir einen alten Mercedes-Kombi mit Berliner Nummernschild. Das UM-Kennzeichen haben wir schon seit fünf Jahren nicht mehr, obwohl uns das kurzzeitig Steuererleichterungen verschafft hatte. Ich habe Verena damals gesagt, dass ich es unmoralisch finde, aber eigentlich war es mir peinlich.

Ich weiß nicht, was Verena in diesem Moment denkt und fühlt, wo sie eigentlich hin will und mit wem. Ich würde ihr gern helfen, ihr die Richtung vorgeben, ein Mann sein. Aber ich kann nicht.

Das beste Bild für unser Zusammenleben in der Ehe, im Viertel, in der Gesellschaft sind diese Homeoffice-Splitscreens in den TV-Talkshows, bei denen man schön sehen kann wie alle aneinander vorbeireden. Weil es keine Regie gibt, die das auspendelt. Jeder Gesprächsteilnehmer sitzt in seinem kleinen Bildschirmteil wie in einem Terrarium, gefangen in seiner Gedankenwelt, nichts verbindet sie. Sie beobachten sich in dem kleinen Fenster in ihrer Monitorecke wie in einem Spiegel. Man kann dabei zuschauen, wie sie Mienen ausprobieren, die sie für überzeugend halten. Und dann sieht man ihre Einrichtung im Hintergrund: die Bücherwände, die belesen wirken sollen, die verrumpelten Hobbyräume und Keller, die Gründerzeitkommoden, die die Talkshowgäste durch ihr Leben schleppen. Ich würde gern sehen, wie sie kurz vor der Sendung noch die Lampen im Hintergrund verrücken und die Bücher ins Bild stellen, von denen sie annehmen, dass sie sie schmücken.

Die Sachen, die ich gesehen habe, seit das Virus uns gefangen hält:

„Contagion“,

„Bourne Ultimatum“,

„Der Pass“,

„Unbelievable“,

„Unorthodox“,

„Fargo“, 2. Staffel,

„Unterleuten“, 1. Episode.

Auf der Fahrt in den Norden liest Verena mir die neuen Zahlen vor, während sich im Fonds die Mädchen streiten. In der Uckermark gibt es praktisch keine Infektionen. Es wird langsam dunkel, und für einen ganz kurzen Moment, kurz hinter der Abfahrt Joachimsthal, fühle ich mich zum ersten Mal seit langem, als würde ich mich in die richtige Richtung bewegen. Es ist spätestens in dem Moment vorbei, als wir die Tür unseres Landhauses aufmachen und mir der muffige, dunkle Wintergeruch entgegenschlägt, den ich aus meiner Kindheit kenne, wenn ich an kalten, aber sonnigen Frühlingstagen mit meinen Eltern unseren Bungalow in Bestensee betrat, im Süden von Berlin, wo wir die Saison eröffneten.

April

Ich habe in den letzten beiden Wochen komplett den Kontakt zu meinen Helden verloren. Den Vietnamesen und den Gentrifizierern. Wenn ich an Vietnamesen denke, denke ich an Chinesen, und wenn ich an Chinesen denke, an die Schuppentiere auf diesem schauerlichen Markt in Wuhan, und dann denke ich, dass man nicht viel weiter weg sein kann von den Schuppentieren in China als in Fragitz.

Ich habe festgestellt, dass ich die Leute in Fragitz besser kenne als die Leute in Berlin. Pohl zum Beispiel, unser Nachbar, der früher bei der LPG gearbeitet hat und heute einen Baumarkt in Sakrow leitet, ist mir viel näher als Max, mit dem ich in den letzten zwanzig Jahren so viel Zeit verbracht habe wie mit keinem anderen Menschen. Ich weiß gar nicht, was Max jetzt macht, in Berlin, und es ist mir auch egal. Das absolut Irre ist, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, mir jemals wieder ein Champions-League-Spiel anzuschauen. Es interessiert mich überhaupt nicht. Ich vermisse nichts.

Ich sage das Verena und den Mädchen beim Frühstück, weil ich denke, ich mache der Familie damit eine Freude, aber Verena nickt nur abwesend, und Ella fängt an zu weinen. Ella, das ist mein Gefühl, vermisst ihre Routine und damit auch meine. Rosa dagegen lebt ihr altes Social-Media-Leben weiter wie bisher, vielleicht sogar noch konsequenter. Wir haben keine Brettspiele gemacht. Ich glaube, wir haben auch gar keine.

Verena versucht, den Kontakt zu ihren Schülern aufrechtzuerhalten. Ich höre mir ihre Sorgen an, aber eigentlich sind sie genauso vage wie die Nachrichtenlage. Abitur. Kein Abitur. Abitur. Kein Abitur. Verena unterrichtet Biologie und Chemie. Das macht es für sie vielleicht noch schwerer, keine Antworten zu haben. Ich weiß es nicht. Ich habe den Überblick verloren und das Vertrauen in die Wissenschaften. Anfangs gab es die Virologen, vertraute Gesichter, der Mann mit der Schüttelfrisur aus der Charité, der kleine Italiener mit der rauen Stimme, der wie der Consigliere des Paten neben Donald Trump erschien. Dann kamen die Statistiker, die schlechte Zahlen in gute Zahlen verwandelten wie Zauberer. Zwar wuchs die Zahl der Neuansteckungen, aber die Übertragungszahlen wurden kleiner. Es gab eine neue Kennziffer, die Basisreproduktionszahl. Da lagen wir bei sechs, mussten aber eine Zehn erreichen, sagte die Kanzlerin. In Italien, wo die Menschen wie die Fliegen gestorben waren, lagen sie schon bei vierzehn. Die besten Kennziffern hatte China, aber denen trauten manche, andere nicht. Es gab Epidemiologen, die mir sagten, dass ich die Zahl der Toten von heute mit der Zahl der Ansteckungen von vor zehn Tagen vergleichen sollte. Da schaltete ich ab, wie früher im Mathematikunterricht, als ich mir vorstellen sollte, dass eine Gerade unendlich ist.

Verena sagt, ein Virologe der Universität Göttingen fordere, dass die Schule nun wieder beginnen müsse, damit die Schüler sich anstecken und damit immun werden. Weil es besser ist, sie stecken sich jetzt an als später.

„Interessant“, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe, was das bedeuten soll.

Wenn mir Berentz, der Chef vom Sakrower Jägerverein, erzählt, wie sein Hund Hector in dem dicht wachsenden Genmais dieses niedersächsischen Großbauern keinem Wildschwein folgen kann, wirkt das auf mich verlässlicher als die Prognosen dieser Epidemiologen. Die Gefahr kommt von außen. Ob niedersächsischer Genmais oder asiatische Schuppentiere. Mehr muss man nicht wissen. Als Max fragte, ob er mal ein Wochenende mit Paula vorbeikommen könne, bevor auch die Uckermark die Grenzen dicht mache (Emoji mit einem Grenzsoldaten), habe ich nicht geantwortet. Ich versteh’ Sylt und Mecklenburg-Vorpommern, die keine Fremden mehr reinlassen. Ich habe mich sehr gefreut, als unsere Nachbarn in der Prignitz die Wochenendbesuche aus Berlin verbieten wollten. Die Krise verlangt ein Bekenntnis. Stadt oder Land. Ich könnte mir vorstellen, Jäger zu werden. Das biologische Gleichgewicht halten. Der einheimische Tierbestand. Unsere Pflanzenwelt. Roßtrappe, Feldhamster, Ringelnatter. Fliegenpilz. Frosch.

Der Himmel hier am Morgen ist unfassbar klar und still, ich kann meine Gedanken knistern hören. Da ist nichts mehr, womit man eine Berlin-Serie füllen könnte. Keine Welt in der Welt.

Ich habe mit Pohl über den einspurigen Feldweg geredet, der am Oberuckersee vorbei durch die Heide führt und eigentlich für Durchgangsverkehr gesperrt ist. Die Einheimischen benutzen ihn trotzdem, weil er die Autobahn abkürzt. 32 Kilometer spart man so täglich. Das läppert sich, sagt Pohl. Im Monat sind das 704 Kilometer. Wenn man einen Benzinpreis von 1,29 Euro pro Liter wie an der Tankstelle in Joachimsthal zugrunde legt und einen Durchschnittsverbrauch von acht Litern, kommt man, bei 22 Arbeitstagen, auf eine monatliche Einsparung von 72 Euro und 65 Cent. Das sind Werte, mit denen ich etwas anfangen kann. Mehr als mit der Basisreproduktionszahl von Covid-19.

Vor ein paar Jahren habe ich – unter falschem Namen – eine Unterschriftenaktion gegen die Abkürzung im Netz initiiert, weil sie durchs Landschaftsschutzgebiet führte, vor allem aber, weil sie direkt an unserem Grundstück vorbeilief, das wir vor fünfzehn Jahren ja gerade deshalb gekauft hatten, weil es an einer Sackgasse lag. Inzwischen finde ich meine Aktion fragwürdig, die weltfremde Tat eines Großstadtbewohners. Die Leute wollen Benzin sparen, Geld sparen und auch Zeit. Es sind meine Leute. Man sollte eine Art Dorfpatrouille einrichten, die sicher stellt, dass wirklich nur Einheimische die Abkürzung benutzen. Ich habe das mit Pohl besprochen. Er findet es gut, und ich mache es. Von meinem Schreibtisch aus habe ich einen guten Blick auf die vorbeifahrenden Autos. Ich habe vorgestern angefangen, mir einen Überblick zu verschaffen. Ich lasse mich nicht von UM-Nummernschildern täuschen, die sich Berliner aus steuerlichen Gründen angeschafft haben. Ich hatte selbst mal eins.

Was ich inzwischen gesehen habe:

„Unterleuten 2“,

„Out the Furnace“,

„Freud“,

„World War Z“,

„Westworld“,

„The Leftovers“,

„ Ozark 1, 2, 3“.

Ich könnte mir eine Serie vorstellen, die auf dem Land spielt. Sowas wie „Fargo“ in der Uckermark, hart, echt. Die Landschaft, die Sorgen und die Gesichter müssten eingefangen werden, so wie in „True Detective“, die erste Staffel, die in Louisiana spielt. Leute wie Pohl und Berentz und, inzwischen, ich. Ich habe noch nicht mit Katharina gesprochen, weil ich glaube, dass sie mich nicht versteht. Noch nicht.

Ich sehe kaum noch Nachrichten, sie sind Variationen der immer gleichen Sorgen der Stadtbewohner. Reporter stehen mit oder ohne Maske in leeren Zentren von Paris, New York, London. Absurde Porträts von Polizeistreifen, die in Stadtparks kontrollieren, ob die Menschen die Versammlungsverbote einhalten, improvisierte Leichenhallen in Manhattan, Maskenpflicht in Jena, Virusausbrüche in Pflegeheimen in Würzburg und Wolfsburg, Zunahme der häuslichen Gewalt in Pariser Vorstädten, sinkende beziehungsweise steigende Basisreproduktionszahlen in Mailand und Madrid. Dazu der Unsinn des Stillstandes. Es gibt keine Neuigkeiten mehr außer: Wie nähe ich mir einen Mundschutz selbst? Was passiert eigentlich in den Berliner Reisebüros und Hotels? Wer kauft sich einen Hund, um die Ausgangssperren in der Stadt zu umgehen?

Das Landleben kommt nicht vor.

Abends, bevor ich das Licht ausmache, schaue ich auf der virtuellen Deutschlandkarte nach, wie die Uckermark steht. Sie ist leicht beige, fast weiß. Es gibt zwanzig Fälle und einen Toten. Morgens nach dem Aufwachen schaue ich, was sich getan hat. Nichts. Achtzehn Fälle auf 100.000 Einwohner. Viel besser kann man nicht dastehen. Die Nachricht, die mich berührt hat, war der Tod von Adam Schlesinger. Schlesinger war Gitarrist und Kopf von Fountains Of Wayne, einer nerdy Rockband von der Ostküste. Meine Lieblingsplatte heißt „Welcome Interstate Managers“, darauf befindet sich mein Lieblingssong „Hackensack“, das Lied eines Zurückgelassenen. Ich habe es ein paarmal hintereinander laut abgespielt. Nach dem dritten Mal kam Verena in die Küche und drehte den Ton ab. Mitten im Refrain.

„I will wait for you

As long as I need to

And if you ever get back to Hackensack

I’ll be here for you.“

Ich habe das Gefühl, ich verliere sie. Es hat mich nicht gewundert, als Verena mir sagte, sie wolle vor Ostern ein paar Tage mit den Mädchen in die Stadt fahren, um Sachen zu erledigen. Sie hat nicht gefragt, ob ich sie begleiten will.

Ich stand auf dem Hof unseres Grundstücks und sah zu, wie mich meine Familie verließ. Ich dachte an meinen Namensvetter Adam Schlesinger. Verena war voll darauf konzentriert, das Auto durch das Tor zu bekommen, sie fährt nicht oft, und der Mercedes ist nicht besonders gelenkig. Rosa tippte irgendetwas auf dem Handy. Ella aber sah mich an, als würde sie mich nie wiedersehen. Ihre kleine Hand war auf der Fensterscheibe gespreizt. Schlesinger starb am Virus, er war so alt wie ich. Es tut mir weh. Ich will nicht, dass sie fahren. Zwei Minuten später verspüre ich eine unglaubliche Erleichterung, als das Auto mit meiner Familie am Horizont verschwindet. Ich glaube, dass ich vor allem deswegen nicht wollte, dass sie fahren, weil ich nicht wollen würde, dass sie wiederkommen.

Ostern

Verena begann die Stadt zu vermissen, als sie in Pankow-Heinersdorf die Autobahn erreichte. Als sie eine Stunde später in Flieht (Flieth) herunterfuhr, hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie waren drei Tage in Berlin gewesen, zwei Nächte, es war ihr vorgekommen wie eine Rückkehr ins Leben. Sie dachte daran, umzudrehen. Rosa hätte gejubelt. Verena zwang sich weiterzufahren, sie waren eine Familie. Sie fuhr zwischen den zartgrünen, gerupft aussehenden Pappeln auf Fragitz zu wie in den Beginn eines Films. Keine Menschenseele. Am Horizont der Kirchturm. Sie bildete sich ein, Adam in der Stille tippen zu hören wie Jack Torrance in „The Shining“. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Sie hatte keine Ahnung, woran er eigentlich arbeitete. Sie erkannte ihn nicht mehr. Adam verwandelte sich fast immer in eine seiner Figuren, wenn er schrieb. Er war ein empathischer Autor. Im letzten halben Jahr, als er an einer Miniserie über Vietnamesen in Deutschland arbeitete, begann er plötzlich anders zu laufen, mit kleinen flinkeren Schritten. Er kaufte sich drei kurzärmlige karierte Hemden, bügelte sie nach der Wäsche selbst und trug sie beim Schreiben, er machte seltsame Turnübungen auf dem Balkon, zog durch die Nase hoch und hackte ständig auf Frühlingszwiebeln herum, als würde er sie töten wollen.

Der Mann aber, der sie jetzt am Tor erwartete, hatte nichts von diesem kleinen, wendigen Mann, mit dem sie im letzten halben Jahr zusammengelebt hatte. Er hatte auch nichts mit dem Mann zu tun, den sie vor zwanzig Jahren geheiratet hatte. Er erinnerte sie eher an die Leute, die am Stammtisch vom Löwen saßen, der Sakrower Dorfkneipe, oder die Männer, die in Pohls Baumarkt an den Paletten herumstanden. Leute, die sie musterten wie einen Eindringling, einen Schädling, ein Virus.

„Wartet bitte noch einen Moment im Auto“, sagte Verena zu ihren Töchtern.

Dann stieg sie aus und lief langsam auf das Tor zu, um herauszufinden, ob die Krise wirklich alles veränderte, wie in den Leitartikeln behauptet wurde. Verena fühlte sich wieder, als würde sie das Drehbuch für eine Serie betreten. Sie kannte immerhin den Schreiber, dachte sie. Sie kannte ihn besser, als sie Gott kannte. Vielleicht war das ein Vorteil. Sicherheitshalber ließ sie den Motor laufen.

Bücher: Henry Miller: “Das Lächeln am Fuße der Leiter”

Foto: Jabs

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Henry Miller schrieb diese großartige Kurzgeschichte 1948.

Ein Clown will die Menschen in der Traumwelt des Zirkus nicht nur zum Lachen bringen. Mehr als ein Spaßmacher trachtet er danach, den Zuschauern auch Glückseligkeit zu schenken. Und daran scheitert er dramatisch.
Für mich ist die Erzählung eine Parabel auf das Leben: Der Mann strebt nach Höherem als das Leben ihm zu bieten hat. Wir sollten aber mehr Demut vor unserem eigenen kleinen Dasein haben.
“Oh, es war wundervoll, der Rolle ledig zu sein und völlig einzutauchen in die gestaltlose Gleichförmigkeit des Lebens, ein Staubkorn zu werden unter Millionen und dabei… ja, und dabei immer noch nützlich zu sein und teilzuhaben, inniger vielleicht als jemals zuvor. Welche Verblendung war es gewesen, zu glauben, dass er den Menschen einen großen Dienst erwies, wenn er sie zum Lachen, Schreien und Weinen brachte!
“Er empfing Größeres, feinere Nahrung der Seele – Lächeln.”
“Er wurde als menschliches Wesen wahrgenommen, das sich wohl von den anderen unterschied, aber dennoch ihrer Gemeinschaft unauflöslich zugehörte.”
“Er fühlte sich mit einer unversiegbaren Fülle von Güte begabt, und er war begierig, stets ein Übriges zu tun, mehr, als man von ihm verlangte. Man konnte niemals zu viel von ihm fordern – so bereit war er nun.” 
“Du verrichtest die Drecksarbeit und nimmst sie den anderen von der Schulter. Das macht sie glücklich, aber dich selbst noch viel mehr.”
Das Taschenbüchlein (Rowohlt, 1978) präsentiert ein gelungenes Zusammenspiel des Autors mit Illustrationen von Joan Miró.

Diverses: Deutsche Sprache

Foto: Jabs

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Adjektiv “bierernst”

Der Ausdruck bierernst geht nach Heinz Küppers Illustriertem Lexikon der deutschen Umgangssprache (Band 1, Stuttgart 1982) auf die Annahme zurück, dass der Genuss einer entsprechenden Menge Weins beschwingt und fröhlich mache, dass Bier hingegen den Trinker gedankenschwer, dumpf und ernst stimme.
Heute bedeutet bierernst wohl: etwas zu ernst nehmen;
laut Duden: übermäßig, unangemessen ernst;
DWDS: übermäßiger, unangemessener Ernst;
Wiktionary: äußerst ernst, im Kontrast zu einer weniger ernsten Situation.
 
Franz Josef Degenhardt könnte zu diesem Thema anmerken: 
 
Ich möchte Weintrinker sein,
mit Kumpanen abends vor der Sonne sitzen
und von Dingen reden, die wir gleich versteh’n,
harmlos und ganz einfach meinen Tag ausschwitzen
und nach Mädchen gucken, die vorübergeh’n.
Ich möchte Weintrinker sein.

Ich möchte Weintrinker sein,
und nicht immer diese hellen Schnäpse saufen,
nicht von Dingen reden, die nur mich angeh’n,
mir nicht für zwei Gläser Bier Verständnis kaufen,
nicht mit jenen streiten, die am Tresen steh’n.

Ich möchte Weintrinker sein,
bei’nem herben Roten oder leichten Weißen
um’ne Runde spielen, nach der keiner fragt,
ein paar Witze über den Verlierer reißen,
der ganz einfach nur darüber lacht.

Ich möchte Weintrinker sein,
nicht beim Schnaps um Zehntel Skat mit Hirschbock spielen,
wo man gierig Geld in seine Tasche wischt,
nicht dem Nachbarn heimlich in die Karten schielen,
ihn nicht schlagen, wenn er sich zwei Asse mischt.

Ich möchte Weintrinker sein,
mit Kumpanen lachend ein paar Lieder singen,
die sich um Trinken, Mädchen und um Liebe dreh’n,
nebenbei ein bisschen reden von den Dingen,
die am Tag in einer kleinen Stadt gescheh’n.

Ich möchte Weintrinker sein,
nicht ab Mitternacht “Frau-Wirtin-Verse” grölen,
kein Soldatenlied und nicht den “Tag des Herrn”,
und nicht vom “Mitelabschnitt” irgendwas erzählen
und nichts von Hungerpest in Hongkong hör’n.

Ich möchte Weintrinker sein,
auf dem Nachhauseweg wie Kinder darauf achten,
dass man beim Bürgersteig nicht auf die Ritzen tritt,
und im Bett dran denken, wie die Mädchen lachten,
und im Schlaf noch lachen über meinen Schritt.
Ich möchte Weintrinker sein.