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Bücher, Fussball: Campino: “Hope Street”

Foto: Jabs

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“Es geht um mehr als nur Leben und Tod”
 
Campino schafft es in der Tat, zu erklären, wie die glühende Liebe zu einem Fußballverein funktioniert. Gerade der bewundernswerte, beinharte Fan des FC Liverpool taugt als ein prädestiniertes Beispiel für ein verrücktes Leben eines Anhängers einer Mannschaft, die auch ich sehr verehre. Einem völlig normalen Menschen zu vermitteln, wie ein Fußballfan tickt, ist übrigens ein Ding der Unmöglichkeit. In dieser Erzählung erahnt man nebenher auch, welche Magie dieser wunderschöne Ballsport entwickeln kann. Das verspüre auch ich ab und an​, nein: viel zu oft​
Im Laufe meiner Lebensjahre ist mir der Sänger der Toten Hosen eigentlich noch sympathischer geworden, als er es als uriger Punk schon immer war. 
Mit diesem Buch habe ich aber ein paar Probleme. Mir stockt der Erzählfluss zu oft. Campino streut ununterbrochen nebensächliche Informationen in den Text, die einfach uninteressant sind: Wer was aß und trank, wo saß, was anhatte, wohin blickte…
Lesenswert ist die frühe Familiengeschichte der Freges in Düsseldorf, Metzkausen und Cornwall. Zu viele Details machen diese Berichte aber dann doch etwas langweilig.
Das Reisetagebuch Campinos finde auch nicht gerade spannend. Er berichtet von Filmaufnahmen an den Drehorten von Wim-Wenders-Filmen in Nordamerika, bei denen er Kommentator war, dann schaut er sich in Großstädten wieder die Spiele seines Herzensvereins an, um sogleich wieder nach Europa zurück zu fliegen – nach Frankfurt/M., aber sofort weiter nach Neapel, um dort ein Champions-League-Duell zu besuchen. Seine wohl eher vernünftige Frau ermahnt ihn für solche Aktionen regelmäßig. Und das schlechte Gewissen äußert sich darin, dass Campino doppelte “Kompensationsgebühren” für die Flüge bezahlt. Er glaubt so, ein bisschen zu einem aktiven Umweltschützer zu werden. Man fliegt zu den Spielen und rettet nebenbei die Welt dabei ein bisschen. Mir erscheint es dekadent, dass man in einer Arbeitspause mal eben von was weiß ich wo nach Manchester fliegt (dahin gehen wohl die meisten Flüge von Deutschland nach England), um mit dem Taxi weiter nach Liverpool zu düsen, sich dort das Spiel ansieht, dann auf Einladung des Vereins oder des Teammanagers Klopp sich auf der eventuellen Siegesfeier in intimen Rahmen des LFC vergnügt und schließlich mit dem Sohn des Trainers zum Anwesen der Familie Klopp kutschiert, um dort den einen oder anderen Absacker zu nehmen. Des Nachts fährt man in das Hotel am Airport Manchester zurück.     
Die Spielberichte der Saison 2019/20, in der die Elf von Anfield endlich wieder Meister wurde, sind heute nur noch für eingefleischte LFC-Fans von Belang. 
Für die geneigten Fußballliebhaber liefert Campino interessante Interna aus dem Umfeld des LFC, sie kommen bei der Lektüre durchaus  auf ihre Kosten. Er ist doch eng mit der Familie Jürgen Klopps befreundet, ist Kumpel und Trauzeuge Sami Hyypiäs, kennt Markus Babbel, Jerry Jeremies, Peter Crouch, Jerzy Dudek, Didi Hamann und Kalle Riedle gut. 
 
Dennis Scheck hat “Hope Street” in seiner Literatursendung “Druckfrisch” für mich überraschend über den grünen Klee gelobt​. 
Anm.: ​Bei dem Buch stört es mich, dass die für den Schutzumschlag und den Leineneinband verwendete rote Farbe nicht das Rot des LFC ist, sondern eher ein Orange. 
PS: Ich würde Campino gern die Frage stellen: Ist es nicht viel leichter ein Buch zu schreiben, wenn man nicht vom erfolgreichen Verkauf desselben abhängig ist? Er ist da sicher kein allzu großes Risiko eingegangen, da er finanziell bestimmt nicht darauf angewiesen ist. Zumal er davon ausgehen kann, dass die Toten-Hosen-Fans diesem Lietaturversuch garantiert wohlwollend entgegenkommen.       
 
 
Die Toten Hosen (1994): Long way from Liverpool
 
My heart it gets so heavy
by the end of May,
but when it gets to August
you know I’ll feel okay.
I didn’t choose to be born here, 
it’s just a freak of birth,
but before I die here
I wanna kiss that turf. 
 
Cause it’s a long, long way from Liverpool,
where the boys go crazy and the girls are cool, 
and no one sings like the Kop can do. 
We love you. 
 
The bread’s on the table,
the car’s in the drive.
but I don’t wanna stay here,
I just wanna survive. 
I know I’ll never walk alone
and my favourite colour’s red,
as long as I’m so far away
I may as well be dead.
 
 
Zitat Jürgen Klopp auf seiner ersten Pressekonferenz in Anfield: “Es ist nicht wichtig, was die Leute denken, wenn du kommst. Es ist wichtig, was die Leute von dir denken, wenn du gehst.”


 
 
 

Fussball: Ein spektakuläres, aber illusionäres Fußballspiel um den Uckermark-Sommerpokal 2021

Foto: Jabs

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Zum Thema “Geschichten aus einer Kindheit”Den Großvater erreichte heute ungewöhnlich spät nach einem Oma-Opa-Tag ein Anruf: „Ich bin lieb: Weil du doch vorhin Kopfschmerzen hattest, habe ich dir nicht gleich eine Sprachnachricht geschickt. Immer, wenn wir uns verabschiedet haben, fällt mir noch was ein. Kannst du bitte den dritten Torwart Yann Sommer auf meiner Liste ausradieren und den Torwart von Holstein Kiel, wie heißt der noch?, aufschreiben?“ „Ach ja, Ioannis Gelios. Und wir brauchen noch Ersatztrainer. Papa, wie heißen die noch? Ach ja, Co-Trainer. Also ich einen Co-Trainer und du einen Co-Trainer. Hoffentlich sind deine Kopfschmerzen bald vorbei.“

Das Großvater-Enkel-Gespann lässt seiner manchmal überbordenden Fantasie ihren freien Lauf…
Seit ca. fünf Wochen plant Jonathan ein großes Fußballspiel in Großvaters Heimat: Der Sommerpokal Uckermark 2021. Auf dem Dorfbolzplatz im Schmachtenhagen will er mit einem von ihm zusammengestellten Team gegen eins von Opa spielen. Am 21. August dieses Jahres führt er als Kapitän seine Mannschaft auf den Rasen. Nach immerwährenden Umstellungen im Kader stehen z. B. solche Größen wie Lionel Messi, Cristiano Ronaldo, Manuel Neuer, Robert Lewandowski, Toni Kroos, Erling Haaland, Joshua Kimmich für seine Elf einem bunten Haufen gegenüber, den Opa nominierte: vornehmlich Alte-Herren-Fußballer von Humboldt. So laufen u. a. Kimme, Micha Steinhöfel, Mike Bracklow, Zico Ziemer, Fiete, Steini, Flachi und Petzi auf. Immer wieder will Joni Prognosen zum Spielausgang erfahren und freut sich diebisch, wenn der Großvater sich totlacht: „Das wird das höchste Ergebnis in der Geschichte des Fußballsports, ich glaube, das Spiel geht zwei Millionen zu null aus!“
Nach tage-, wochenlangen Überlegungen, ewigen Korrekturen und Ergänzungen wurden Ersatzspieler gefunden, Trainer vorgeschlagen (Wolfgang von Rotation und Leuchtturm von Humboldt), ein auf einem Hochsitz thronenden Schiedsrichter und Linienrichter benannt: Klaus, Ilona, Rosi und Jonis Oma, die sogar mit einem Stuhl bedacht wurde. Es gibt selbstverständlich einen Masseur – Manne. Jede Mannschaft hat einen Arzt – Moritz Uhlig und Henning Ohnesorge. Balljungs erscheinen nicht erforderlich – der Platz liegt in einer Senke – der Ball rollt von selbst aufs Grasgeviert zurück. Die Kontrahenten finden Maskottchen, jeweils ein Tier, das in der Uckermark lebt (für das ein Tierpfleger verantwortlich zeichnet), und ein „Stofftier“. In Jonis Team ist das ein Igel und Bowser (eine Computerspielfigur aus der Super-Mario-Reihe), in Opas Team ein Mäusebussard und Ritter Keule vom 1. FC Union. Unklar ist noch, welche Schlachtrufe gebrüllt werden sollen und wer die Nationalhymne singt. Beide Mannschaften können zwölf namentlich benannte Zuschauer ihrer Wahl einladen, die kein Eintrittsgeld zu bezahlen brauchen. (Selbstverantwortlich sollen diese Sonnenöl und -schirme mitbringen.) Ei

n ​​​Arbeitskollege Papas ist für Essen und Trinken verantwortlich, wichtig sind die Sportgetränke. Er muss auch für leere Getränkekisten sorgen, „denn für das Leergut bekommen wir ja Flaschenpfand zurück.“ Er muss auch die VIP-Gäste betreuen. „Die sollen 100 Euro bezahlen und haben einen Diener, der bringt ihnen eine Bockwurst und Jever Bier.“

Probleme bereiten den Veranstaltern wegen der Corona-Probleme und der Verhältnisse in Schmachtenhagen die Möglichkeiten zum Umziehen. Es gibt keine Kabinen. Alle müssen sich in Gebüschen umziehen – Größter Brüller: „Petzi muss sich mit Messi umziehen! Nach dem Kick baden Spieler und Zuschauer im See. Dann macht Onkel Bolli ein Mannschaftsfoto. Darauf muss das Ergebnis stehen. Das unterschreiben alle und können es dann nach Hause mitnehmen.“ Der Sieger bekommt eine selbstgebastelten großen und der Verlierer einen kleinen Pokal. Alle anderen Mitwirkenden erhalten Gold-, Silber- oder Bronzemedaillen.Jonis Mama versucht einer großen Enttäuschung vorzubeugen. Sie erklärt ihm, dass dieses Spiel niemals stattfinden kann. Messi und die anderen Fußballgrößen werden nie in die Uckermark anreisen. Die Entfernung von Barcelona ist viel zu groß. Sie haben auch keine Zeit für solche Mätzchen. „Aber Mama, alle Spieler bekommen doch vier Euro vom Eintrittsgeld!“ Die Antwort: „Messi verdient so viel Geld, dass er dem Obdachlosen in unserer Straße 1000 Euro schenken könnte, ohne das er das in seinem Portemonnaie überhaupt merkt.“  macht den Kleinen sehr nachdenklich.

Fussball: Sehnsucht nach der Bolzerei – nicht nur wir darben…

Foto: Jabs

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Falko Hennig ist ein Berliner Bühnenkünstler (Reformbühne Heim & Welt), Schriftsteller (Radio Hochsee), interessiert sich für die Arbeit von Walter Kempowski, gründete die Charles-Bukowski-Gesellschaft, ist auf diversen Lesebühnen aktiv und verteidigt in der Deutschen Autorenfußballnationalmannschaft (Autonama) hinten rechts. (Trainingsplatz: Bero Mitte in der Kleinen Hamburger Straße)

Fussball: Humboldts Heimat

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Für die in letzter Zeit zur Humboldt-Gemeinschaft gestoßenen Sportfreunde habe ich mal ein paar Aufnahmen vom 1950 erbauten Walter-Ulbricht-Stadion – später: Stadion der Weltjugend – zusammengesucht. Dort trug die famose, am 04.09.1949 gegründete, HSG Humboldt-Uni, unser Gründungsverein, bis 1992 ihre Heimspiele aus… Das in Berlin “Zickenwiese” titulierte Stadion hatte ein Fassungsvermögen von 50000 Zuschauern, die Eintrittskarten waren bei unseren Spielen aber nicht ausverkauft…

Anhänge:
1. Bau Walter-Ulbricht-Stadion 1950
2. Walter-Ulbricht-Stadion in den Fünfzigerjahren 
3. Stadion der Weltjugend in den Achtzigern
4. Stadion der Weltjugend, während eines Punktspiels landete ein Hubschrauber auf dem Platz. Die Partie musste für eine gute Stunde unterbrochen werden, ein Unfallverletzter wurde in die Charité gebracht.
5. Stadion der Weltjugend, Abriss in den Neunzigern
6. Mannschaften im Laufe der Zeit

Fussball: Fernsehfußballkommentar

Foto: Jabs

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Bei der Sky-Übertragung des Bundesliga-Duells Augsburg – Union habe ich einen mir völlig unbekannten Begriff aus dem Reportersprech kennengelernt: “akademischer Elfmeter” (Jonas Friedrich). Ich glaube, diese Benennung ist Blödsinn…

Fussball: Glück im Spiel

Schon lange bewundere ich den Freiburger Trainer Christian Streich, weil er nicht nur klug, sondern auch ehrlich und uneitel ist.
Meine Meinung, dass Spielglück ein wichtiger Faktor im Hochleistungssport ist, teilen die Fachleute ja nicht. (Vielleicht auch, weil ihre Expertise dann weniger bedeutend ist?)
Jedenfalls sprechen die handelnden Fußballer eigentlich nur davon, wenn sie fehlendes Glück als Entschuldigung/Erklärung für schlechte Ergebnisse beklagen. Selten wird zugegeben, dass man glücklich gewann.
Aber Streich beweist sportliche Größe, ist erfrischend anders:

Fussball: “Der Tag, an dem der Fußball starb.”

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CAMPINO 

„HOPE STREET“

Kapitel 12:  „Heysel“ 

Im Mai 1985 hatte ich meinen letzten Arbeitstag in der Psychiatrie. Der Job hatte mir viel bedeutet, ich kam mit den Patienten und Pflegern gut aus und würde Herrn Nordmann vermissen. Dennoch konnte ich das Ende der Dienstzeit und die dadurch neu gewonnene Freiheit kaum erwarten. 

   Auch die Toten Hosen warteten schon ungeduldig. Uns blieb kaum Zeit zum Proben. Ein paar Tage später startete bereits die Tournee zu unserem zweiten Album Unter falscher Flagge. Wir spielten fast jeden Abend in irgendeiner kleinen Halle irgendwo in Deutschland, doch am Mittwoch, dem 29. Mai, hatten wir spielfrei. Ich überlegte deshalb, nach Brüssel zu reisen, um das Europapokalfinale der Landesmeister zu sehen: Liverpool FC gegen Juventus Turin. 

   Die Gelegenheit schien günstig, die Reds nach vielen Jahren wieder live erleben zu können. Das Spiel war ausverkauft, doch ich probierte noch über alle möglichen Kontakte, an eine Karte zu kommen. Meine Bemühungen blieben leider erfolglos, und weil ich am nächsten Tag eh wieder ein Konzert hatte, entschied ich mich schweren Herzens, es nicht auch noch in Brüssel auf dem Schwarzmarkt zu versuchen, sondern das Spiel vorm Fernseher zu verfolgen. 

   Ich wohnte mit unserem ehemaligen Gitarristen Walter November in einem Gartenhäuschen in Flingern. Flingern war zu der Zeit ein etwas rauer Arbeiterstadtteil und das Revier der Toten Hosen. Bis auf Kuddel lebten wir alle dort in einem Radius von zweihundert Metern um den Jet Grill herum. An jenem Abend hatte ich mir vorgenommen, das Spiel allein zu gucken. An Off-Tagen von Tourneen wollte ich ungern Leute sehen, um meine Stimme zu schonen. Ich hatte mir einen „Bauernteller Flinger Boy“ gemacht, eine Eigenkreation von Walter und mir. Sie bestand aus Reis, Erdnüssen und Ketchup und wurde auch von niemand anderem gegessen. Ich setzte mich damit in meinem Zimmer auf das Bett und schaltete gegen 19:30 Uhr den Fernseher an, ein altes dickes Gerät, das auf dem Teppichboden auf einer Spanplatte stand, darunter vier Ziegelsteine. Das war meine Idee von Gemütlichkeit. 

   Sie endete sofort, als ich auf den Bildschirm blickte. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Der ZDF-Reporter Eberhard Figgemeier versuchte mit brüchiger Stimme zu beschreiben, was geschah: bürgerkriegsähnliche Zustände vor und im Brüsseler Heysel-Stadion. Die Kamera schwenkte über den sommerlichen Abendhimmel und die Fankurven. Aus der Entfernung sah alles nach einem dicht gedrängten, typisch euphorischen Publikum aus. 60 000 Zuschauer waren gekommen. Doch als die Kamera die Bilder näher heranzoomte, zeigte sich die Katastrophe. Hooligans aus Liverpool hatten einen altersschwachen Maschendrahtzaun niedergerissen und den benachbarten Block Z gestürmt, der voll mit Juve-Fans war. Einige hatten sich in den Innenraum gerettet, die meisten aber waren zu einer Mauer gerannt, die dem Ansturm nicht standgehalten hatte und kollabiert war. Menschen wurden eingequetscht oder zu Tode getrampelt, andere erstickten. Doch das hielt die verfeindeten Lager nicht davon ab, immer wieder mit Steinen und Stangen aufeinander loszugehen.   

   Tränen stiegen mir in die Augen. Ich sah ein paar (wie sich nachher herausstellte: insgesamt zwölf!) hilflose Polizisten umherirren. Niemand beachtete sie. Sanitäter versuchten, die Verletzten und Toten zu bergen, Absperrgitter wurden zu Bahren umfunktioniert. 

   Ich war vom Bett heruntergerutscht, stierte in den Fernseher. Tausend Gedanken in meinem Kopf. Waren das wirklich wir? Unsere Jungs aus Liverpool? Wer hatte wen provoziert, und wieso hörten die mit der Gewalt nicht auf? 

   Diese Fragen haben mich noch lange Zeit aufgewühlt, und erst viele Jahre später bekam ich darauf zumindest ein paar Antworten. Drei Menschen konnten mir schließlich schildern, wie sie die schreckliche Nacht erlebt hatten. 

   Mein Kumpel Graham, der als Zuschauer im Publikum war, LFC-Mitarbeiter George Sephton und Liverpools ehemaliger Spieler Craig Johnston, der an jenem Abend in der Startformation stand. Ihn hatte ich Anfang der Neunziger bei einem Fußballturnier des Musiksenders MTV  kennengelernt. Wir verbrachten den ganzen Abend miteinander, und er erzählte mir ausführlich, wie es ihm damals ergangen war: 

   „Wir waren in der Kabine und zogen uns gerade um, da hörte ich einen lauten Aufschrei von draußen. Ich rannte sofort los, die Treppen hoch zum Spielerausgang, und beobachtete durch ein Gitter, wie keine sechzig Meter von uns verzweifelte Juve-Fans, gejagt von einer Horde Liverpoolern, zu dieser Mauer flüchteten und sich hochhangelten. Unser Torwart Bruce Grobbelaar war mir gefolgt, und dann sahen wir beide, wie die Mauer unter schrecklichem Getöse nachgab. Aus dem Chaos befreite sich ein blutverschmierter Mann in schwarz-weißem Juventus-Trikot, lief in unsere Richtung und schrie: „Tiere! Tiere!“ Dann tauchten Polizisten in Kampfanzügen am Spielerausgang auf und drängten uns zurück die Treppen runter.“ 

   Viele Menschen im Stadion hatten von alldem nichts sehen können und überhaupt nicht begriffen, was passiert war. Es gab noch keine Handys oder andere Verbindungen nach draußen. So sangen die meisten Fans weiter ihre Lieder und wurden wütend, weil das Spiel nicht angepfiffen wurde. Durchsagen auf Englisch, Italienisch und Französisch wurden gemacht. Kaum jemand reagierte darauf. 

   Auch George Sephton, seit 1971 Stadionsprecher an der Anfield Road, war an diesem Abend in Heysel: „Ich war als Sprecher für die Liverpool-Fans angereist mit dem Auftrag, sie nach dem Spiel zu informieren, wann und wie das Stadion zu verlassen sei. Ich hielt mich in dem engen Ansagerraum mit den Mikrofonen auf. Wir waren zu dritt, der belgische Stadionsprecher von Heysel, der italienische Ansager für die Juve-Fans und ich. Wir waren alle drei frühzeitig eingetroffen, der Belgier hatte ein kleines Radio dabei, in dem leise Musik lief. Auf einmal riss die Musik ab, und es wurde eine Durchsage gemacht, auf Flämisch oder Französisch, ich konnte nicht verstehen, was gesagt wurde. Doch daraufhin rief der Belgier: „Oh my God!“ Er deutete runter in Richtung Block Z, wir konnten erkennen, dass dort alle in Aufruhr waren. „Eine Mauer ist eingestürzt!“ Die Stimme im Radio meldete sich wieder, er übersetzte geschockt: „Es heißt, fünf Tote seien geborgen worden!“ Und dann waren es innerhalb von zwanzig Minuten 39 Tote. Die UEFA wies uns an weiterzumachen, als sei alles normal.“ 

   Viel zu spät traf die Verstärkung der Polizei ein, mit Pferden und Schlagstöcken gelang es kurzzeitig, die rivalisierenden Gruppen zu trennen. Nun durchbrachen auf der gegenüberliegenden Seite Hooligans des Juventus-Anhangs die Zäune und liefen angriffsbereit in den Innenraum und auf den Platz, sie wollten wohl ihre Kameraden rächen. 

   Ich starrte erschüttert in den Fernseher. Es war nicht so, dass Gewalt mir fremd war. Ich kannte das von der Ratinger Straße in der Düsseldorfer Altstadt, aber auch von unseren eigenen Konzerten, gerade zu jener Zeit Anfang der Achtzigerjahre, wo es zu vielen Schlägereien kam. Tränengasbomben wurden im Dunkeln gezündet, Menschen rannten in Panik zu den Ausgängen, und wahrscheinlich war es einfach nur Glück, dass dabei nie etwas Schlimmeres passiert ist. Oft wurden wir als Band in die Auseinandersetzungen mit reingezogen oder griffen ein, sprangen von der Bühne oder prügelten uns draußen auf der Straße. Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendgangs gehören seit den legendären Straßenschlachten zwischen Mods und Rockern Anfang der Sechzigerjahre in England zur Jugendkultur. Punks gegen Teds. Punks gegen Skins. Fußballhools gegen alle. 

   Jeder junge Mensch, der das einmal erlebt hat, kennt den Adrenalinschub. Die Berauschtheit von der eigenen Stärke in einer Gruppe, der Moment, wenn die Ordnungskraft sich zurückzieht, der kurze Augenblick des Triumphs, der auch nur Teil einer Spirale ist, die nur eine Richtung kennt. Es ist immer das Spiel mit dem Feuer, bis man an den Punkt gerät, an dem die halbstarke Abenteuerlust umschlägt in eine Katastrophe, die nicht mehr aufzuhalten ist. Das ist der Augenblick, an dem sich alle wünschen, sie wären nie dabei gewesen. 

   Dieser Moment war im Heysel-Stadion schon seit Stunden überschritten. George erinnert sich: „Nach einer Weile kam ein Typ von der UEFA in unseren Raum und wandte sich an mich. Er sagte: „Wir haben entschieden, dass das Spiel stattfindet. Sie werden jetzt über die Stadionlautsprecher bekannt geben, dass die Partie sofort abgebrochen wird, sollten die Fans versuchen, den Platz zu stürmen.“ Ich sah ihn an und entgegnete: „Sind Sie verrückt? Wenn wir das durchsagen… angenommen ein Team schießt ein Tor, dann werden die gegnerischen Fans genau dies tun, um den Abbruch zu provozieren! Das habe ich in England schon einmal erlebt.“ Der UEFA-Mann bellte mich an: „Sie tun, was ich sage!“ – „Nein!“ Daraufhin drehte er sich um, holte einen Polizisten mit Pistole in den Raum und wiederholte: „Tun Sie, was Ihnen befohlen wird!“ Genau in dem Moment kamen die beiden Mannschaftskapitäne von Juve und Liverpool, Gaetano Scirea und Phil Neal, herein. Sie sollten über die Lautsprecher zu ihren jeweiligen Fans sprechen und sie beruhigen. Wir durften mit keinem Wort erwähnen, dass es Todesopfer gegeben hatte.“      

   Damals im Fernsehen stürmte ein Polizeiaufgebot noch den italienischen Fanblock, um die dortigen Randalierer einzukesseln, dann beendete das ZDF kurz vor Anpfiff die Übertragung. 

   Von den Geschehnissen am Boden zerstört, saß ich in meiner Wohnung zwei Autostunden von diesem Krieg entfernt. Brüssel war in diesem Moment ein anderer Planet. Wieso ließ man es zu, dass hier noch Fußball gespielt wurde? 

   Kein Liverpool-Spieler habe irgendwelche Toten gesehen, erzählte mir Craig Johnson. „Die meisten von uns sind unten in der Kabine geblieben und warteten ab. Es herrschte große Verwirrung, niemand hatte den Überblick. Nur gerüchteweise sickerte durch, dass Menschen gestorben waren. Wir machten uns Sorgen um unsere Freunde und Familien, die oben auf den Tribünen saßen. Die Mannschaften hatten untereinander kaum Kontakt. Es gab keine Absprachen, wie die Situation zu handhaben sei.“ 

   Mein Freund Graham Agg, LFC-Fan seit seiner Kindheit, ist tief verwurzelt in der Liverpooler Fanszene. Er kennt sich aus mit den Konstellationen und Stimmungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen und weiß oft schon vorher, ob eine Auswärtsreise freundlich oder ungemütlich wird. Und so kennt er auch die Vorgeschichte zu dem Abend in Brüssel. Der Ärger habe schon in Rom begonnen, sagt er, im Jahr zuvor, beim Europapokalfinale gegen den AS Rom. Das hatte Liverpool im Elfmeterschießen gewonnen. Als die Liverpooler feiernd das Stadion verließen, wurden sie von den Römern brutal angegriffen. Über dreißig Engländer kamen mit Messer- und Stichwunden ins Krankenhaus. 

   Wahrscheinlich, so Graham, hätten sich in Belgien einige Schläger für den damaligen Überfall revanchieren wollen. 

Juve hat zwar nichts mit dem AS Rom zu tun, aber es war irgendwie eine England-Italien-Sache und wurde auf das Spiel gegen Turin übertragen. 

   „Den ganzen Tag über hatte sich die Atmosphäre in der Brüsseler Innenstadt aufgeheizt. In Bars und Restaurants und auf den großen Plätzen kam es immer wieder zu Übergriffen. Leuchtraketen wurden hin- und hergeschossen, die Stimmung wurde immer feindlicher. Aber dass es zu so einer Katastrophe kommen würde, hätte niemand ahnen können. 

   „Ich sehe Grahams Gesicht noch heute die Erschütterung an, wenn er davon spricht. Es war die schwärzeste Nacht des europäischen Fußballs, der Tiefpunkt der an üblen Momenten nicht gerade kurzen Geschichte britischer Hooligans. Als bekennender Liverpool- und England-Anhänger schämte ich mich sehr, so wie alle Reds-Fans. Wir hatten Schuld auf uns geladen, und die wog schwer. Ausgerechnet Liverpool! Die Fans des LFC galten bis dahin in Europa als feierfreudig, aber friedlich. Jahr für Jahr waren sie auf dem Kontinent unterwegs gewesen, und es hatte nie großen Ärger gegeben. Der Schock, die Trauer und die Verbitterung saßen tief, vor allem in Italien und bei Juventus Turin. 

   Zwanzig Jahre danach war das immer noch deutlich zu spüren, als am 5. April 2005 die beiden Mannschaften im Viertelfinale der Champions League erstmals wieder gegeneinander antraten, diesmal an der Anfield Road. Ich stand an meinem Platz im Stadion, Main Stand, und sah, wie die Liverpool-Fans vor dem Spiel über eine ganze Stadionseite hinweg eine riesige Choreografie ausbreiteten. Mit großen Buchstaben stand da geschrieben: „WE ARE SORRY!“ 

   Daraufhin drehten sich alle im Juve-Block gleichzeitig und geschlossen um und zeigten uns den Rücken. 

   Noch heute bin ich fassungslos, dass es zu der Tragödie in Brüssel kommen konnte. 

   Die Veranstalter haben sicherlich katastrophale Fehler gemacht, das Stadion war baufällig und hätte niemals für ein solches Spiel zugelassen werden dürfen. 

   Korrupte Mitarbeiter des belgischen Fußballverbands hatten Tickets für den gesamten Block Z, direkt neben den Engländern, zu Schwarzmarktpreisen an Italiener verkauft, die dort natürlich niemals hätten stehen dürfen. Ein lächerlicher Maschendrahtzaun war die einzige Trennung von einem Bereich, der eigentlich für neutrale Zuschauer aus Belgien bestimmt war – nun aber vor lauter Juve-Fans aus allen Nähten platzte. 

   Wie die Spieler es geschafft haben, zum Spiel noch anzutreten und es zu Ende zu bringen, ist mir ein Rätsel. Ob es sinnvoll war, die Partie überhaupt anzupfeifen, fällt mir schwer zu beurteilen. Vielleicht war es nötig, um Zeit zu gewinnen, bis man die Lage unter Kontrolle hatte. 

   Wenn ich bei der UEFA etwas zu sagen gehabt hätte, wäre mein Vorschlag gewesen: „Wir tun so, als wäre es ein normales Spiel, lassen ein Team absichtlich 1:0 gewinnen und bringen morgen, wenn die Sieger den Pokal zu Ehren der Toten ablehnen, eine gemeinsame Erklärung heraus.“ Dass so etwas nicht geschehen ist, werde ich nie verstehen. Die Art und Weise, wie sich die Juve-Spieler nach dem Schlusspfiff trotz der Toten so ausgelassen über den Pokalsieg freuen konnten, wirkte auf mich verstörend. Die UEFA hat sich schon damals als rückgratlose, korrupte Organisation gezeigt. 

   An diesem Abend in meinem Zimmer in Flingern beschloss ich, dass ich mit dieser Art Fußball nichts mehr zu tun haben wollte. Eine lange Zeit schaute ich mir kein Match mehr an, weder im Stadion noch im Fernsehen. Die Sache war für mich gelaufen. 

(https://www.youtube.com/watch?v=Y33LikW6hJM)

Fussball: Traditionsvereine nach dem Absturz

Foto: Jabs

Foto: Jabs

Der investigative und gute Sportreporter Marc Schlömer (Sport inside) hat an diesen beiden Filmen entscheidend mitgearbeitet.