Die am Sonnabend in der Berliner veröffentlichte 2014er Weihnachtsgeschichte Alexander Osangs (“Der Sprecher”) gefällt mir wieder.
Im letzten Jahr enttäuschte mich “Die Kette”.
Der Meister schien nicht so liebevoll beim Schreiben, eher uninspiriert und nicht gebührend sorgfältig:
– 24 Mal beginnen die Sätze mit “Er hat/Sie hat”
– man findet in acht aufeinanderfolgenden Zeilen fünf Mal das Wort Jackett
– die wörtliche Rede wird mitunter ohne Anführungszeichen verwendet
– ich finde es liederlich, wenn man mal St. Martin und dann Sankt Martin, mal Samstag und dann Sonnabend schreibt
– wahnsinnig viele Kommas zieren den Text, manchmal sind sie falsch gesetzt
– unendlich lange Sätze wechseln sich mit Einwortsätzen ab
– das leidige “war gewesen” verunstaltet drei Mal die Erzählung
Die Kette
Eine Weihnachtsgeschichte von Alexander Osang 2013
Der Wind schlug ihnen ins Gesicht wie ein feuchtes, kaltes Tuch. Der Himmel war schwarz. Aus der obersten Etage der Fabrik hörte man die Diskothek ihrer Weihnachtsfeier. Blurred Lines bestimmt zum vierten Mal heute Abend. Inzwischen klang es wie eine Aufforderung. I know you want it. Du willst es doch auch. Frau Christiansen zog die Schultern zusammen. Sie trug nur ein kurzes, schwarzes Kleid und ein Bolerojäckchen, dessen Kragen mit Pelz besetzt war. Becker sah das Taxi am Ende des Hofes. Es fuhr nicht weiter, vielleicht ein Verbotsschild. Sie mussten da raus. Er zog sein Jackett aus und legte es Frau Christiansen über die Schultern.
Es war diese altmodische Geste, die Beckers Leben völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Die Geste eines Gentlemans.
Er stand direkt hinter ihr, sie drehte sich zu ihm um, lächelnd, der Blick einer Katze. Die Christiansen aus der Kundendienstabteilung, früher hätte man gesagt: Fräulein Christiansen. Er kannte ihren Vornamen nicht, aber sie hatten den gleichen Heimweg. Es war eine Idee von Frau Schneider gewesen, seiner Sekretärin. Eine Heimwegliste, um Kosten zu sparen. Die Vorgesetzten bezahlten, in diesem Fall er. Sie roch nach Coco von Chanel, das Parfüm seiner ersten Frau. Ines. Er hatte damals Egoiste benutzt, sie Coco. Sie fanden das irgendwie originell Mitte der Neunziger, zweimal Chanel, es hatte alles nichts genutzt. Eigentlich war auch Carstens aus der Personalabteilung auf Beckers Heimwegliste. Er hatte an der Bar gestanden, als Becker ihm sagte, er habe ein Taxi gerufen. Carstens wohnte in der Belforter Straße, in einer dieser Fünfziger-Jahre-Schachteln, Frau Christiansen wohnte Metzer, wenn er das richtig verstanden hatte, er selbst Saarbrücker Straße. Es war kurz nach eins. Er drehte sich zum Lastenaufzug um, der wieder nach oben gefahren war. Er stand in der fünften Etage wie festgenagelt. Blurred Lines. Carstens blieb noch. Morgen würde er es bereuen.
Sie mussten durch den Regen. Das Wasser brannte in den Augen. Er hielt ihr die Taxitür auf, sie schlüpfte hinein. Ihr Kleid rutschte hoch, sie trug Strumpfbänder, großer Gott. Becker hoffte, dass sie seinen Blick nicht gesehen hatte. Er zog die Tür zu. Er schaute nach oben. Es sah so aus, als stünde die gesamte Firma an den hohen Fabrikfenstern und sähe zu, wie der Chef abfuhr. Seine Kinder, dachte Becker berührt. Sie hatten jetzt sturmfrei.
In der Taxiwärme beschlugen seine Brillengläser. Aus dem Radio kam „All I want for Christmas“ in irgendeiner Liedermacher-Version. Er nahm seine Brille ab und versuchte, sie mit seiner Krawatte zu polieren.
„Ich mach das, Matthias“, sagte die Christiansen und zog ihm die Brille weg.
Er sah sie an, ein verschwommenes Katzengesicht, rote Lippen. Ein Lächeln. Matthias. Hatte er ihr im Lastenaufzug das Du angeboten? Hatten sie getanzt? Er konnte es nicht ausschließen, andererseits hatte er keine Ahnung, wie sie hieß.
„So“, sagte der Taxifahrer.
„Metzer Straße“, sagte Frau Christiansen.
Becker fühlte sich hilflos wie ein Kind. Sie rollten vom schwarzen Hof, Kreuzberg wischte am Fenster vorbei. Als er seine Brille wiederbekam, bogen sie in den Kreisverkehr auf dem Moritzplatz ein. „I just want to see my Baby standing right outside my door“, sang der Liedermacher. Becker ging in all den Weihnachtsliedern verloren wie in süßem Brei. Er spürte ihre Brust an seiner Schulter, vielleicht der Kreisverkehr, aber als sie wieder auf gerader Strecke fuhren, blieb der Druck. Sie schnurrte. Vielleicht war es auch die Heizung des Taxis. Er dachte an ihre Wohnung, das fremde Bad, das kalte Schlafzimmer, der Weg zurück im Morgengrauen, vielleicht traf man sich über die Feiertage auf dem Kollwitzmarkt und danach im Büro. Die Kollegen, die am Fenster zugeschaut hatten, wie sie abgefahren waren, kommentierten als griechischer Chor seinen Seitensprung. Vor zehn Jahren wäre ihm das alles egal gewesen. Er hatte seine zweite Frau auf einer Weihnachtsfeier kennengelernt. Anfang der Neunziger, damals noch als Leiter der Personalabteilung, hatte er unterm Firmenweihnachtsbaum Frau Winter aus der Hauptbuchhaltung geküsst. Er spürte ihre Hand an seinem Bein. Er hatte zu wenig getrunken, und er wollte keine dritte Frau. Er sah aus dem Fenster und hätte gern etwas Unverbindliches gesagt, aber ihm fiel nichts ein.
Sie hielten vor einem dieser flachen, brutal aussehenden Gründerzeitblöcke in der Metzer Straße. Wenn sich Becker die Nazizeit vorstellen konnte, dann hier. Er sah Frau Christiansen an, ihr Mund war leicht geöffnet, die Augen halb geschlossen, sie neigte sich ihm zu. Alles ist möglich, dachte Becker. Ein berauschender, aber trügerischer Gedanke. In Wahrheit ging alles immer nur wieder von vorne los. Kein Raumgewinn, würde man sagen, wäre man Fußballreporter. Wie bei den Spaniern. Frau Christiansen schloss die Augen, er kannte immer noch nicht ihren Vornamen. Er küsste sie auf die Wange. Ein leicht seifiger, pulvriger Geschmack auf den Lippen. „Da wären wir, Frau Christiansen“, sagte er. „Gute Nacht. Und frohes Fest“.
Sie sah ihn ungläubig an. Sie schlug die Tür hart zu. Er sah sie im Regen stehen, das Jackett auf den Schultern. Sein Jackett. Er hatte es vom Anzug getrennt wie St. Martin seinen Mantel.
Er lehnte sich in die Polster. Im Autoradio lief jetzt „Another Christmas in L.A.“. Der Wagen rollte langsam die Metzer Straße hinunter. Frau Christiansens Duft hing im Fonds wie ein Liebeslied, eine verpasste Chance, vielleicht die letzte seines Lebens. „Left a Girl behind in my old man‘s truck“, sangen die Killers. “Some times I wonder where she ended up”.
“Ich habe noch eine Kollegin nach Hause gebracht, Anita“, sagte Becker seiner Frau. Ohne Not, nur um ihr zu zeigen, wie treu er war, wie standhaft. Ein Fehler, klar. Sie hatte das dritte oder vierte Glas Rotwein, vielleicht das fünfte, er hörte es, sie schlurrte die Konsonanten weg.
Das Wort Weihnachtsfeier stellte sie vor große Probleme. Es klang wie Weicheier.
„Eine Kollegin?“, fragte sie.
„Ja“, sagte er.
Er erzählte vom unschlüssigen Carstens, vom offenen Mund Frau Christiansens. Er verriet seinen Kollegen, um Ruhe zu haben, obwohl er wusste, dass es nichts half. Anita hatte mit all den Jahren ein Gefühl dafür entwickelt, wenn er zu viel redete. Sie spürte sein schlechtes Gewissen und packte es sich. Die späten, trunkenen Gespräche mit seiner Frau waren wie Turmsprünge. Sie fielen nur, immer schneller, immer tiefer. Man konnte es nicht stoppen. Er sah aus dem Fenster, wo der Weihnachtsbaum, verschnürt wie eine Mumie, an der Terrassenwand lehnte. Dahinter die schwarze Berliner Nacht, aus der der Fernsehturm leuchtete wie eine einsame Kerze. Er hätte mit der Christiansen aussteigen sollen.
Um drei fiel im die Kette ein, die er seiner Frau zu Weihnachten schenken wollte. Er starrte in die Dunkelheit, der verdammte Alkohol, er spürte, dass auch seine Frau wach war. Sie lagen da, still, taten so, als würden sie schlafen. Sie spielten toter Mann.
Es war die Kette seiner Mutter, schon seine Großmutter hatte sie getragen und davor die Urgroßmutter, die Becker nie kennengelernt hatte. Die Familie ihrer Mutter kam aus Braunsberg. Das silbrige feine B auf dem mandelförmigen Amulett hätte für die ostpreußische Stadt stehen können oder für den Namen der Urgroßmutter. Barbara. Mit den Jahren hatte sich die Familie auf Barbara geeinigt, niemand wollte eine Kette tragen, die einer ostpreußischen Stadt gewidmet war. Eine revanchistische Kette. Braunsberg hieß heute Braniewo. Seine Mutter hatte ihm die Kette im Herbst gegeben. Er hatte sich geziert. Aber die Kette war schön.
„Schenk sie Anita“, hatte seine Mutter gesagt. Vielleicht spürte sie, dass seine Ehe zerfiel, seit ihre Tochter zum Studium in Göttingen war. Vielleicht wollte sie nur Ordnung in ihrem Leben schaffen. Seine Mutter wollte nichts hinterlassen, sie wollte sich komplett auflösen. Seit sein Vater gestorben war, schleuderte sie Dinge aus ihrem Leben wie eine Tennisballmaschine.
„Und wie erkläre ich Anita das B?“, hatte er gefragt.
„Becker“, hatte sie gesagt.
„Oder Baby“, sagte er.
„Ja. Baby“, sagte sie. „Baby ist gut.“
Die Kette lag in einem kleinen ledernen Kasten, der mit lila Seide ausgeschlagen war. Der Verschluss war defekt. Er hatte sie zu einem Goldschmied in der Wörther Straße gebracht und heute Nachmittag abgeholt. Sie war in seinem Jackett. Das Jackett hatte Frau Christiansen. Baby. Jetzt war Becker wirklich wach.
Nadja Christiansen stand auf der Straße und wünschte sich, dass der schwarze, kalte Regen zu Schnee würde. Sie kippte von einem Bein auf das andere, ihr Knie knickte durch, sie konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten. Sie sah den Lichtern des Taxis hinterher. Sie wusste auch nicht, worauf sie gehofft hatte. Im Lastenaufzug, der sie von der Weihnachtsfeier nach unten brachte, hatte Becker ihr Kleid gelobt. Er hatte gelacht, was ihn zehn Jahre jünger machte und damit nur noch zehn Jahre älter als sie. Sie wäre gern in ein Hotel gefahren. Sie hätte morgen in einem weißen, weichen Hotelbademantel frühstücken können. Sie hatte dabei gar nicht so sehr Becker an ihrer Seite gesehen. Sie hatte sich nur nach Abwechslung gesehnt. Es war einsam und langweilig an der Seite ihres Freundes.
Jan-Peter war fast vierzig, aber er fühlte sich zu jung für Kinder, er fühlte sich zu jung für eine Hochzeit, er fühlte sich sogar zu jung dafür, die Rechnung im Restaurant zu übernehmen. Sie bezahlten getrennt, als wären sie Geschäftsreisende. Sie teilten sogar die Heizkosten der Wintermonate wie ein Joint Venture. November und Dezember bezahlte sie, Januar und Februar Jan-Peter. Er hatte ihr oft versichert, dass sie besser dabei fuhr, obwohl er den kürzeren Februar hatte. Er hatte das durchgerechnet. Ihrem Freund gingen die Haare aus, und manchmal starrte er beim Frühstück wie ein alter Mann, aber seine Lebensplanung war die eines Teenagers. Sie sehnte sich nach einem Mann, der Verantwortung übernahm, aber Männer, die Verantwortung übernahmen, küssten Frauen wie sie höchstens auf die Wange. Im Umkehrschluss würde das wohl bedeuten, dass Weichbrote wie Jan-Peter eine Weihnachtsfeierbekanntschaft ohne mit der Wimper zu zucken durchvögelten. Sie sah nach oben, der Regen fiel ihr direkt in die Augen, sie wackelte, das Jackett rutschte ihr von der Schulter. Niemals würde jemand wie Jan-Peter sein Jackett auf der Schulter einer Kollegin zurücklassen. Das machte das Jackett gefährlich. Sie konnte es ihrem Freund nicht erklären. Sie zog das Jackett aus der Pfütze, drückte es sich ans Herz und sah sich um. Auf der anderen Straßenseite standen ein paar Container.
Nadja Christiansen stakste durch den Dezemberregen auf dem beigefarbenen Metallkasten des Roten Kreuzes zu und warf das Jackett ihres Chefs hinein.
Becker konnte nicht verstehen, warum man einen Altkleidercontainer sicherte wie die Bank von England. Wer klaute denn die alten Pullover, die die freundlichen Menschen vom Kollwitzplatz in die Tonne warfen. Er stand seit vier Stunden auf der kleinen, struppigen Verkehrsinsel und beobachtete den gelblichen Kasten, in den Frau Christiansen, wie sie ihm heute Morgen am Telefon bestätigt hatte, gestern Nacht sein Jackett geworfen hatte. Warum sie das getan hatte, konnte sie ihm nicht erklären. Sie hatte sich auch nicht entschuldigt. Sie hatte ihm den Weg zur Tonne beschrieben und dann aufgelegt. Er nahm an, es war ihr peinlich. Er hatte nichts von der Kette erzählt, warum auch.
Er hatte beim Deutschen Roten Kreuz angerufen, um seine Situation zu beschreiben, aber war in eine endlose Warteschleife geraten, die ihn irgendwann auf eine Mailbox spuckte. Es war Sonnabend. Er wollte nicht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, was er vermisste. Schon das Jackett allein war nicht billig gewesen, es gehörte zu einem Jil-Sander-Anzug, der einst 2 500 Euro gekostet hatte. Schwer zu sagen, wie viel die übrig gebliebene Hose noch wert war, ein Einzelstück im Moment, die Hälfte seines Sankt-Martin-Mantels. Becker vermisste vor allem die Kette. Seltsamerweise hatte die Panik, die er empfand, weniger mit seiner Frau zu tun, der er die Kette schenken wollte, als vielmehr mit seiner Mutter, der die Kette einst gehört hatte. Ihr Wert, das spürte Becker, kam aus der Vergangenheit. Er war das Glied, das sie mit der Gegenwart und der Zukunft verband.
Der nächsten Frau sah er direkt über die Schulter, um einen Spalt im Maul des Containers zu entdecken. Sie war Mitte dreißig, wurde von einem etwa dreijährigen Mädchen begleitet und wirkte so nett und beschäftigt wie all die Frauen, die er an diesem Samstagvormittag beobachtet hatte. Sie schienen ihre Freizeit als eine Art Arbeit anzusehen, was Becker grundsätzlich verstand. Seine Frau hatte sich nach der Geburt ihrer Tochter völlig auf die Erziehung konzentriert und nicht mehr damit aufgehört, bis das Kind sein Abitur in der Tasche hatte.
Als Becker auf der Suche nach einer Öffnung ganz dicht an die Frau herantrat, rammte sie ihm den Ellenbogen ins Gesicht. Becker, der nie geboxt hatte, besaß ganz offensichtlich das, was man in Boxerkreisen ein Glaskinn nannte. Er sank auf die Knie. Die Frau verriegelte die Tonne und trat ihm dann mit dem Fuß den Arm weg, mit dem er sich auf dem Bürgersteig abstützte. Becker fiel mit dem Oberkörper auf den feuchten, kalten Gehweg, seine Brille rutschte in eine Pfütze.
„Wer ist denn das, Mama?“, fragte das Mädchen.
„Ein böser Mann, Josefine“, sagte die Frau. „Ein ganz böser Mann.“
Becker rappelte sich auf. Er stützte sich auf seinen Ellenbogen, als läge er am Strand, und sah den beiden hinterher. Vielleicht könnte man ein Kind in den Container fallen lassen wie einen Kleidersack, dachte er. Das Problem wäre es, das Kind wieder herauszubekommen.
Er versuchte noch einmal, das Deutsche Rote Kreuz zu erreichen, und diesmal erfuhr er, dass der Container gerade erst geleert worden war. Die nächste Leerung war am 27. Dezember. Nach Weihnachten. Becker lief nach Hause, zog sich eine neue Jacke an und kehrte mit seinem Werkzeugkasten zum Container zurück. Er brauchte die Kette. Er brauchte sie, weil seine Mutter am Heiligen Abend unter ihrem Baum sitzen und darauf warten würde, wie er seiner Frau ihre Kette schenken würde. Während er die verschiedenen Schraubenschlüsselgrößen an den Universalgriff flanschte, dachte er daran, wie sie gelächelt hatte, als er „Baby“ vorschlug. Wie eine junge Frau. Er würde die Kette in die Gegenwart tragen. Gerade als er herausgefunden hatte, dass der 17er gut in die farbverklebte Scharniermutter griff, stoppte ihn eine Polizeistreife, die offensichtlich von Anwohnern alarmiert worden war.
Becker kehrte nach Einbruch der Dunkelheit zurück um weiterzuarbeiten. Gegen 19 Uhr brachte ihn die Streife auf das Revier in der Milastraße, um ein Protokoll aufzunehmen. Er erzählte den Polizisten von der Heimfahrtliste seiner Sekretärin, Frau Schneider, von Carstens aus der Personalabteilung, der sich nicht von der Bar hatte lösen können, von der fröstelnden Frau Christiansen und vom Kettenglied zur Vergangenheit seiner Mutter, das er momentan darstellte. Er war ein Gentleman.
Becker registrierte, mit welchem Befremden sich die Beamten ansahen, aber er war nicht in der Lage, sein Problem besser darzustellen.
Einer der Männer rief die Nummer von Nadja Christiansen an, um sich Beckers Geschichte autorisieren zu lassen. Sie war freundlich und bestätigte, mit ihrem Chef ein Taxi von der Weihnachtsfeier geteilt zu haben. Von einem Jackett aber wisse sie nichts, von einer Kette schon gar nicht. Die Polizisten nickten, als hätten sie sich das genau so vorgestellt.
Zwei Tage vor Weihnachten kaufte Becker in den Galeries Lafayette einen beigen agnes-b-Anzug für seine Frau und ließ ihn sich von einer schönen, dunkelhäutigen Französin weihnachtlich verpacken. Seine Frau wickelte ihn am Heiligabend lustlos aus. „Was soll ich mit einem Businessanzug ohne Business?“, fragte sie. Er hatte seine Frau als Praktikantin kennengelernt, sie war schnell schwanger geworden und hatte ihr Volkswirtschaftsstudium nie beendet, soweit er sich erinnerte. Zuletzt hatte sie einen Lehrgang zur Pilateslehrerin absolviert. Sie hatten viel über Pilates geredet in den letzten zwei Jahren. Er hatte kaum etwas verstanden, aber immer guten Willen gezeigt. Natürlich erschien man nicht im Businessanzug zum Pilatestraining, aber was sollten die bedürftigen Berliner mit seinem Jil-Sander-Jackett, dachte Becker. Einen Gedanken, den er leider nicht aussprechen konnte.
„Ich kann es umtauschen, Anita“, sagte Becker.
„Ach“, sagte seine Frau.
Seine Mutter schwieg. Sie fragte nicht nach der Kette, aber sie hatte den ganzen Abend lang einen todtraurigen Blick. Er hatte sie enttäuscht. Becker fragte sich, ob er die Kette jemals am Hals seiner Mutter gesehen hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Gegen neun rief seine Tochter an, um allen frohe Weihnachten zu wünschen. Sie war in Göttingen geblieben, wo sie seit Kurzem einen Freund hatte. Danach ging er mit seiner Mutter in die Mitternachtsmette in die Fehrbelliner Straße, die Kirche dort erinnerte sie an die Katharinenkirche in Braunsberg, sagte sie. Seine Frau blieb zu Hause. Sie hatte diese Rotweinzähne, die er nicht mochte.
Als sie nachts auf die Straße traten, fragte seine Mutter: Weißt du, dass die Nazis den Turm der Katharinenkirche sprengten? Nein, Mutter, sagte Becker.
Den 27. Dezember verbrachte Becker vor dem Kleidercontainer in der Metzer Straße. Der Fahrer kam am Nachmittag, weigerte sich aber, Becker die Sachen zu zeigen. Er verwies auf seine Vorgesetzten. Becker bot ihm 50 Euro an und dann 100, aber das schien den Fahrer nur noch misstrauischer zu machen. Becker verfolgte den Wagen auf seinem Weg von Tonne zu Tonne und verlor ihn schließlich an einer roten Ampel in Kreuzberg. Becker hatte die Kette seiner Urgroßmutter fallen lassen, sie fiel ins arme Berlin wie in einen tiefen Brunnen. Das Rote Kreuz mauerte.
Zwischen den Jahren griff eine lokale Boulevardzeitung das kleine Video auf, das Becker beim Versuch zeigte, die Kleidertonne zu knacken. Irgendjemand hatte ihn gefilmt und das Video auf Youtube gestellt. Es hatte 38 976 Klicks, 2 453 Menschen mochten es, 19 nicht. Darunter er. Es war nur ein kleiner Bericht, eine Art launige Weihnachtsgeschichte, aber der Reporter hatte herausgefunden, dass Becker seit fast zehn Jahren die mittelgroße Niederlassung eines Frankfurter Konzerns leitete. So geriet er, wenn auch nur am Rande, in den Bericht einer überregionalen Tageszeitung über die zunehmenden sozialen Unterschiede in der deutschen Hauptstadt. Er war eine Vignette in der bleiernen Zeit, nicht mehr, aber das Youtube-Video war mit der Online-Ausgabe der Tageszeitung verknüpft. Am 1. Januar hatte es fast 250 000 Besucher, am 5. Januar bekam Becker einen Anruf aus der Frankfurter Firmenzentrale.
Anfang Februar wurde er entlassen. Im März reichte seine Frau die Scheidung ein, im April zog er aus. Den Sommer verbrachte Becker auf einer Reise durch Südamerika, die er schon immer machen wollte. Die meiste Zeit fühlte er sich einsam. Er stand allein auf der mexikanischen Pyramide der Sonne und allein auf der des Mondes. Er besuchte ein Designhotel mitten im Dschungel Ecuadors, von dem er im Reiseteil der Zeitung gelesen hatte, er stand unter Milliarden kreischenden Insekten und war einsam. In Machu Picchu erfuhr er, dass seine Mutter gestorben war. Er lief mit seinem Handy durch die Ruinen einer untergegangenen Kultur, auf der Suche nach einer guten Telefonverbindung. Er stand auf einem Mauervorsprung, sah auf die nebelverhangenen peruanischen Berggipfel und hörte sich den Todesbericht seiner Tochter an, in dem sich Traurigkeit mit frischem Sachverstand vermischte, das Mädchen studierte Medizin.
Es war das Herz. Was sonst.
Als Becker in Deutschland eintraf, war seine Mutter bereits verbrannt. Zur Beerdigung kamen fünf Leute. Seine Mutter hatte ihre Selbstauflösung mit großem Erfolg betrieben. Den Herbst verbrachte er damit, das Erbe zu ordnen. Es war nicht mehr viel. Er fand ein Bild seiner Urgroßmutter, die die Kette trug. Jedenfalls sah es so aus, als wäre es die Kette. Sie war eine schöne Frau. Aus zwei Fotos war sie mit einem Pferd zu sehen, einen Mann sah man nie. Es gab auch keinen Mann an der Seite seiner Großmutter. Und er fand nicht ein einziges Bild seines Vaters. Es gab eigentlich nur Frauen. Auf der Taufurkunde seiner Mutter standen ebenfalls zwei Frauennamen. Er dachte an eine Spiegel-Titelgeschichte, die ihm seine Frau vor ein paar Jahren demonstrativ auf den Esstisch gelegt hatte. Es ging um das Aussterben des Mannes. Er hatte es mit Anitas Pilatesphase in Zusammenhang gebracht.
Wahrscheinlich hatte sie recht. Becker hätte nur nicht gedacht, dass es so schnell ging.
Dann war schon wieder Weihnachten. Es ging immer schneller. Am Ende war ein Leben ein Daumenkino, in dem immer mal ein Weihnachtsmann auftauchte und eine Gans aus dem Ofen gezogen wurde. Am vierten Advent ging er ins Warenhaus am Alexanderplatz, um die Rauschunterdrückungskopfhörer zu besorgen, die sich seine Tochter gewünscht hatte. Mehr Geschenke brauchte er in diesem Jahr nicht. In der Abteilung für Unterhaltungselektronik lief auf einem großen Bildschirm das alte Weihnachtsvideo von Wham!. Ein paar junge Menschen mit seltsamen Haarschnitten stapften durch eine Winterlandschaft, bewarfen sich mit Schnee und saßen mit Rotweingläsern am Kamin.
„Last Christmas, I gave you my hart“, sangen Wham!. “But the very next day, you gave it away.”
Besser konnte man das aufregendste Jahr seines Lebens nicht zusammenfassen, dachte Becker. George Michael war sein Orakel.
Als er das Warenhaus verließ, sah er die Kette wieder: Sie hing am Hals eines Mädchens, das mit ein paar anderen Jugendlichen auf einer Sitzinsel in der Lobby die Zeit totschlug. Becker starrte das Mädchen an.
„Is wat, Opa?“, fragte sie.
„Schöne Kette“, sagte Becker.
„Haste keen Frisör, Opa“, sagte einer der Jungs. Aber das Mädchen lächelte.
Becker nahm all seinen Mut zusammen, zeigte auf das mandelförmige Amulett und fragte: „Wofür steht denn das B?“
Das Mädchen sah ihm direkt in die Augen. Sie überlegte einen Moment, dann sagte sie: „Bitch.“
Die Jungen lachten. Becker dachte an Anita, an Frau Christiansen, an seine Mutter, an deren Mutter und an die Urgroßmutter, Barbara. Er fand, dass ihre Kette ganz gut in der neuen Zeit angekommen war. Er wurde nicht mehr gebraucht.
Danke, sagte er und verließ das Warenhaus.
Draußen hatte es angefangen zu schneien. Der Schnee verwandelte den schäbigen Alexanderplatz in eine friedliche, stille Landschaft, die Becker vorsichtig betrat wie einen fremden Planeten.