Weshalb diese Erinnerungen gerade gestern auftauchten, kann ich nicht sagen:
Ich wuchs in einem klitzekleinen uckermärkischen Dorf ohne Kirche, Kneipe und Fußballplatz auf. In meiner Kindheit fuhr der Bus dreimal pro Woche in die sechs Kilometer entfernte Kreisstadt.
Wenn man mit dem Rad nach Prenzlau fuhr, passierte man am Stadteingang die große Kaserne der Roten Armee.
Dort wurden wir Kinder oft von den Sowjetsoldaten durch den Zaun angesprochen. Wir sollten den Wehrpflichtigen irgendwie Schnaps besorgen. Mit den korrekt abgezählten Münzen gelang das irgendwie. Wir hatten großes Mitgefühl mit den jungen Männer, die tausende Kilometer von ihrer Heimat in der DDR den langen Grundwehrdienst ableisten mussten. Immer wieder fragten sie uns, ob wir für 20 (?) Mark eine Armbanduhr sowjetischer Produktion kaufen wollten: “Du Uhri?” Diese Zeitmesser trugen abenteuerliche Markennamen , wie Tschaika (Möwe) oder Pobieda (Sieg) und bestachen mit einer Datumsangabe auf dem Zifferblatt. Manchmal gaben wir unser mühevoll gespartes Geld, das wir vielleicht zum Geburtstag geschenkt bekamen oder in den Ferien mit dem Einsammeln von Kartoffelkäfern verdient hatten, dafür aus. Der Stolz auf den Besitz einer solchen Uhr schwand mitunter bald, da wir bemerkten, dass man die Dinger schon nach wenigen Tagen Gebrauch immer wieder nachstellen musste.
Sehr interessant war immer der Besuch der Verkaufsstelle in der Kaserne, im Magasin. Die Eltern kauften dort Fischkonserven, oft wohlschmeckende Ölsardinen. Für Kinder gab es selten und als große Belohnung Bonbons, die Konfekt hießen. Die einzeln sorgsam eingewickelten Leckereien waren eine Mischung von herkömmlichen Bonbons und Pralinen. Völlig erstaunt sahen wir, wie die Verkäuferinnen dann an einem Abakus farbige Kügelchen hin und her schmissen und schließlich den Einkaufspreis nannten.
An den Wochenenden konnte man sowjetische Offiziersfamilien an unserem Badesee beobachten. Der Rathssee liegt an einem Waldrand und ist dort idyllisch in Grundmoränenhügel eingebettet. Ein Dorado für Erholungssuchende. Die Offiziersfrauen lagen teilnahmslos auf Decken und aßen. Sie waren wohlbeleibt in Bikinis gepresst und auffällig stark geschminkt. Alle trugen Sonnenbrillen mit einem Papierschnipsel auf der Nase, der vor Sonnenbrand schützen sollte. Die Offiziere in knappen Dreiecksbadehosen waren zumeist sehr athletisch gebaut und spielten unentwegt Volleyball. Diesen Sport beherrschten sie tadellos. Technisch perfekt wurde der Ball von einem in der Mitte stehenden Zuspieler an die im Kreis aufgestellten Kameraden gepasst, die mit anmutig anzuschauenden Schmetterbällen glänzten. War das eine frühe Vorstufe von Beachvolleyball?
Weitere Begegnungen mit den Sowjetsoldaten hatten wir in der Grundschule. Dort besuchten uns manchmal Abordnungen, um von ihrem Dienst zu berichten. Wir wurden von unseren Russischlehrern angehalten, Brieffreundschaften mit Kindern zu beginnen, deren Adressen wir von den Soldaten erhielten.
Einmal im Jahr wurde ein Fest der russischen Sprache gefeiert. Dabei geriet ich überraschend in einen Chor, der zu Liederwettstreiten delegiert wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, überstanden wir erfolgreich Entscheide auf Kreis- und Bezirksebene. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass ich überhaupt nicht singen kann. Als ich dem Russischlehrer das vor einem ersten Auftritt eröffnete, meinte er nur: “Das ist nicht schlimm. Du sprichst einigermaßen gut russisch und in der Singegruppe sieht es nicht gut aus, wenn da nur Mädchen mitmachen. Und du singst einfach nicht, machst nur den Mund auf und zu.” Also: schon damals Playback.