Der Besuch der Russin
Eine Weihnachtsgeschichte Von Alexander Osang
Wir kamen eine halbe Stunde zu früh, aber Fredo war schon da. Sein Volvo stand an der Ladestation, die er am Gartenzaun unserer Eltern aufgebaut hatte, obwohl die kein Auto mehr besaßen. Mein Vater hatte seinen Daimler vor zwei Jahren in die letzte Telefonzelle von Bestensee gefahren, die damals schon gar keine Telefonzelle mehr war, sondern eine dieser Kabinen, in denen die Leute ihre Bücher entsorgten. Er schaffte es in den Lokalteil der Märkischen. Die verstreuten Bücher und die S-Klasse mit dem Firmenaufdruck. „Neue Brille? Geh’ zu Hille.“ Lustig, dachten die Redakteure, der blinde Optiker. Unsere Mutter hatte ihren Mann gezwungen, endlich das Auto zu verkaufen. Dann war sie gestorben.
Papa brauchte keine Ladestation mehr, mein Bruder Fredo steckte hier seinen Claim ab.
Natalja sah auf ihr Handy. Sie war ständig auf Telegram, und natürlich verstand ich das. Da draußen war Bestensee, das war nicht mal mehr meine Heimat. Aussteigen mussten wir trotzdem.
„Frohe Weihnachten“, sagte der Fahrer.
„Ihnen auch“, sagte ich.
Er nickte und ich dachte, dass er vielleicht Muslim war. Oder Jude. Nein Jude eher nicht, dachte ich, und dann ärgerte ich mich, dass ich sowas überhaupt dachte. Ich würde ihm ein bisschen mehr Trinkgeld geben. Auch das eigentlich ein inakzeptabler Gedanke, im Nahostkonflikt, dem weltweiten.
„Wenn Sie denn Weihnachten feiern“, sagte ich.
„Bitte?“, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern. Das war alles nicht mehr zu retten, in meinem Kopf nicht, nicht in diesem Uber. Am besten gar nicht mehr reden. Stille Nacht. Ich tippte Natalja leicht an. Sie sah auf, orientierungslos. Sie steckte das Handy weg und stieg aus, ich kroch hinterher in die feuchte Kälte. Der Wagen fuhr ab. Natalja sah sich auf der verlassenen Dorfstraße um, als fürchte sie einen Hinterhalt. Sie trug hohe Stiefel und hatte ihren Mantelkragen aufgeschlagen. Sie sah schön aus, geheimnisvoll hier in der Fremde Südbrandenburgs. Ich fühlte mich plötzlich auf schwieriger diplomatischer Mission.
Fredo machte die Tür auf. Er sah uns mit dem belustigten, gütigen Blick des älteren Bruders an.
„Natalja, Friedrich. Friedrich, Natalja“, sagte ich.
„Welcome“, sagte Fredo, mit einem Akzent, den er für russisch hielt.
„Danke“, sagte Natalja.
„Gut“, sagte ich.
Wir gingen ins Haus, es roch nach Gans, was mich entspannte, obwohl ich kein Fleisch aß. Ich fuhr mit der Hand über die gespundeten Bretter, mit denen mein Vater Anfang der 80er-Jahre seine kleine Diele tapeziert hatte. Er wäre lieber Tischler geworden als Optiker, hatte er mir auf meiner Konfirmationsfeier gestanden. Er wäre auch lieber Katholik gewesen als Protestant. Aber es ging nicht, sagte er. Es ging nicht, Junge! Er war schon ziemlich bezündet gewesen. Die Golfsäcke meiner Eltern hingen im Flur wie die Eier eines toten Elefanten. Alles vergeblich. Das Streben nach Glück und einem guten Handicap. Drinnen sang Frank Sinatra „Have yourself a merry little Christmas“. Mein Vater konnte Sinatras Spitznamen runterbeten wie einen Rosenkranz. Ol’Blue Eyes. The Voice. Sultan of Swoon.
„Du kannst die Schuhe anbehalten“, sagte ich, obwohl Natalja gar nicht angeboten hatte, ihre Stiefel auszuziehen. Ich wusste natürlich, dass alle andere Pantoffeln tragen würden oder diese Stoppsocken, die Fredos Frau Carola immer mitbrachte, thematische Stoppsocken. Ich würde meine Schuhe anbehalten, aus Solidarität, mit wem auch immer. Ich konnte mir Natalja nicht auf Strümpfen vorstellen. Ich fragte mich, ob Russen Gans aßen. Bestimmt. Die aßen doch alles, dachte ich und hätte natürlich auch diesen Gedanken lieber nicht gehabt. Ich dachte an Schwanensee. Tschaikowski, den traurigen Kinderschänder. Black Swan. Natalie Portman. Das Ballett in meinem Kopf tanzte immer schneller.
Mein Vater saß ganz allein im Wohnzimmer. Vorm Baum Geschenkkartons, obwohl wir uns wie jedes Jahr versprochen hatten, nichts zu schenken. Je klarer die Ansage, desto größer wurde die Pakete von Fredo.
„Papa“, sagte ich.
Er sah auf, lächelte, schien mit zitternder Hand Sinatra zu dirigieren, der jetzt „I’ll be home for Christmas“ sang.
I’m dreaming tonight of a place I love
Even more than I usually do
„Michael“, sagte mein Vater. „Hörst du? Der King of Swing.“
„Ja“, sagte ich und zeigte auf Natalja. „Natalja. Mein Vater.“
Mein Vater sah sie aus Augen an, die gleichzeitig trüb und leuchtend waren.
„Dobrii wetscher“, sagte er.
Natalja nickte kurz, vielleicht ein Lächeln, aber höchstens ein kleines, kein Knicks.
Als Holzmüller im Frühjahr angeregt hatte, dass Natalja, der russische Gast an unserem Theater, fürs Faltblatt mit dem Spielplan Mai/Juni irgendetwas zum Krieg sagen könnte, hatte sie genauso geschaut. Sie sollte ihre komplizierte russische Seele für das Programmheft des Stadttheaters Neustrelitz erklären. Mit nicht mehr als drei Sätzen allerdings, weil Holzmüller schon das halbe Faltblatt mit seiner Friedensbotschaft vollgeschrieben hatte. Holzmüller, der aus Wattenscheid kam, fielen zu Mariupol vor allem die Stalingradgeschichten seines Opas ein. Aber er war der Intendant. Im August hatte er beschlossen, im Dezember nicht wieder die Weihnachtsoper von Rimski-Korsakow aufzuführen, in der Natalja die Hauptrolle singen sollte. „Die Nacht vor Weihnachten“ hatte schon 1895 bei der Premiere in St. Petersburg dem Zaren missfallen. Jetzt missfiel sie Hanno Holzmüller vom Dreispartenhaus Neustrelitz. Sie zeigten Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Dickens lieben alle.
„Die neue Freundin, Mikey“, sagte meine Vater und winkte patenhaft. „War Zeit.“
„Kollegin, Papa. Natalja ist eine Kollegin aus Neustrelitz“, sagte ich. „Hab ich doch am Telefon gesagt.“
„Neustrelitz“, sagte mein Vater. „Das liegt in Mecklenburg-Vorpommern.“
Womöglich war das Leben, das ich dort oben seit zwanzig Jahren führte, immer mehr in Vergessenheit geraten, weil es keine Bedeutung hatte in Bestensee, wo es darum ging, wer den Brillenladen übernimmt. Hier war Fredo wichtig, der BWL studiert hatte und nicht Kulturwissenschaften. Fredo lebte im Speckgürtel und brachte Heiligabend auch keine Russin mit, sondern eine Landtagsabgeordnete der CDU.
„Richtig, Papa“, sagte ich. „Wir gucken mal in die Küche.“
„Meckpomm“, rief mein Vater uns hinterher. „Meckpomm!“
Im Flur fragte Natalja: „Ist dein Vater … dementisch?“
„Leicht“, sagte ich. „Leicht dementisch.“
Sie berührte mich am Arm. Aus der Küche kam uns Fredo mit zwei Sektgläsern entgegen.
„Tschampanskoje“, rief er. Sein Russisch hatte einen südbrandenburgischen Akzent. Er sagte: „Baschallstah!“
Natalja trank ihr Glas in einem Zug aus. Fredo schenkte nach. Carola, seine Frau, stand am Herd mit Frau Herrmann, die meinem Vater zur Hand ging, seit meine Mutter gestorben war. Sie machte eigentlich die Buchhaltung im Laden, keine Ahnung, was ihr mein Vater versprochen hatte. Sie trug die Schürze meiner Mutter, sie schlüpfte in deren Rolle.
Carola drehte sich um, musterte Natalja, lächelte. Formte mit den Lippen die Worte: „Na sdarowje!“
Natalja kippte ihr zweites Glas und hielt es Fredo hin, der mit der Flasche wartete wie ein Kellner. Er füllte es, sie hielt es in die Luft und sagte, ohne ihn anzusehen: „Weiß ich natürlich, dass ihr immer in Augen guckt bei Prost.“
Fredo lächelte sein nachsichtiges Großerbruderlächeln.
„In zwanzig Minuten ist die Gans fertig“, sagte Carola.
„Fünfundzwanzisch“, sagte Frau Herrmann, ohne sich vom Herd wegzudrehen. „Wer zerlegt den Vogel?“
„Fredo“, sagte ich.
Als wir später ins Wohnzimmer gingen, fragte mich Natalja: „Bin ich verwirrt. Heißt dein Bruder Friedrich nun oder Fredo?
„Beides“, sagte ich. „Beides.“
Mein Vater hatte uns nach Charakteren aus „Der Pate“ benannt. Das waren seine drei Lieblingsfilme. Pate 1, Pate 2, Pate 3. Wir hatten sie jedes Jahr zu Weihnachten gesehen, schon als Kinder. Meine Klassenkameraden schauten „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ und „Kevin, allein zu Haus“, wir guckten den Paten, den ersten Teil am Heiligen Abend. Anschließend fuhren wir zur Christmesse nach St. Elisabeth in Königs Wusterhausen, obwohl niemand von uns Katholik war. Auf dem Heimweg hatte ich jedes mal Angst, erschossen zu werden beziehungsweise von meinem Vater aufgefordert zu werden, irgendjemanden zu erschießen. Um anschließend nach Sizilien verschickt zu werden, wo immer das war. Das waren die Ängste meiner Kindheit: Am ersten Feiertag mit einem blutigen Pferdekopf im Bett wachzuwerden. Der erste Sohn meines Vater sollte Fredo heißen. Friedrich war ein Kompromiss, weil meine Mutter keinen Jungen mit dem Namen Fredo Hille in den Kindergarten Bestensee schicken wollte. Meinen Namen, Michael, konnte man sowohl deutsch als auch englisch aussprechen. Weil für meine Mutter auch Santino nicht infrage kam, hieß unser jüngster Bruder Tom, wie der Familienanwalt der Corleones. Das war alles nur schwer zu erklären: die Sehnsüchte meines Vaters, Träume, die ihn rausführten aus dem Brandenburger Süden in den Italiens.
Tom kam zum Essen. Er war kein Consigliere geworden, er hätte einen gebraucht. Er machte irgendwas mit Medien, was genau, war nicht klar. Er lebte in einer Hinterhofwohnung in Prenzlauer Berg, die kleiner war als der Innenraum von Fredos Geländewagen, und trug Mäntel, die er sich nicht leisten konnte. Sein Selbstbewusstsein schien darunter nicht zu leiden.
Ich hatte noch den leicht tranigen Geschmack der Gans im Mund, die ich nun doch gegessen hatte, weil ich ja schon keine Hausschuhe trug wie die anderen. Frau Herrmann hatte mir eine Keule gegeben. Die Portion meines Vaters hatte sie in kleine Teile geschnippelt und auf den Teller geschaufelt wie Babybrei. Die Gans kam von einem langjährigen Kunden seines Optikergeschäftes.
„Gleitsichtgünther“, hatte mein Vater gerufen. „Aus Egsdorf.“
Sie hatte 60 Euro gekostet, was ein Schnäppchen war, verglichen mit den Gänsen, die man sonst so bekam. In Prenzlauer Berg zahle man über 200 Euro für eine Fünf-Kilo-Gans, sagte Tom. Darum drehte sich das Tischgespräch. Ich war dankbar, dass wir die großen Weltkrisen umschifften. Letztes Jahr war der Weihnachtsfrieden auseinandergeflogen, weil Tom eine Hippiemaus zum Essen mitgebracht hatte, die andeutete, dass unsere Mutter womöglich an den Nachwirkungen ihrer dritten Corona-Impfung gestorben war. Der Booster-Tod. Mein Vater war noch vor der Bescherung ins Bett gegangen. Jetzt kam ich mit einer russischen Tischdame. Ewig konnte man die Gänse nicht aus dem Krieg heraushalten.
„Was heißt eigentlich Gans auf Russisch?“, fragte Tom, als ihm Frau Herrmann ein Stück Brust nachlegte. „Chans?“
Natalja sah ihn an.
„Im Russischen gibt es das G, Thomas“, sagte Carola. „Es gibt nur kein H.“
Carola war CDU-Abgeordnete, aber sie war in Wildau zur Schule gegangen.
„Gansi Flick“, rief mein Vater.
Alle sahen ihn an.
„Russisch war meine erste Fremdsprache“, sagte er. „Ja chiwu f Chohen Neuendorfje.“
„Du bist aus Hohen Neuendorf, Jürgen?“, fragte Carola.
Mein Vater winkte ab.
„Gans heißt Gus“, sagte Natalja.
„Gus“, sagte Fredo mit mehr russischem Akzent als Natalja.
Sie nickte.
„Geinz Rühmann“, sagte mein Vater und sah mit aufgeblähten Nasenflügeln in die Runde. „Weihnachten mit Geinz Rühmann. Wir haben die Schallplatte. Erst die Glocken und dann Geinz.“
Ich bekam einen Lachanfall. Es war, als löse sich ein Krampf in meinem Kopf.
Seit zwei, drei Jahren schien alles, was man tat, Teil einer Schlacht zu sein. Jedes Stück, das wir im Theater spielten, kommentierte die Krisen der Zeit. Die Panzer und die Lockdowns. König Lear oder König der Löwen. Alles sprach für Waffen oder gegen sie. Es gab Tage, da schloss ich meine Bürotür ab, weil ich das Gefühl hatte, ein falsches Wort von mir könnte einen Weltkrieg auslösen. Nicht gut für jemanden, der für Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich war. An so einem Tag hatte ich Natalja gefragt, was sie über die Feiertage machte. Sie hatte im Foyer gestanden und auf den Spielplan geschaut. Sie war erst wieder im Januar dran. Mit Eugen Onegin. Wenn Holzmüller nicht auch diese Oper aus dem Programm strich, weil Tschaikowski aus Petersburg kam. Wie Putin. Ich wusste gar nicht, woher Natalja stammte, und ich hatte keine Ahnung, wie sie an diesem Provinztheater gelandet war. Sie war seit zweieinhalb Jahren da, vielleicht wegen dem Mordanschlag auf Nawalny.
„Gästeappartment“, hatte sie gesagt. „Und Weißwein.“
Das Wohnhaus für unsere Theatergäste war ein Neubaublock aus Ostzeiten, in dem sie zu Weihnachten bestimmt ganz allein wäre. Ich hatte gefragt, ob sie nicht für ein paar Tage mit nach Berlin kommen wolle, wo ich immer noch meine kleine Wohnung hatte. Ich würde auf der Couch schlafen. So war sie am Ende hier gelandet, im Wohnzimmer des Paten von Bestensee, der einen Witz gemacht hatte, den sie nicht verstand. Wie sollte man Heinz Rühmann erklären?
Quax der Bruchpilot, Feuerzangenbowle, der Hauptmann von Köpenick. Held von Goebbels und Göhring, später Goldene Kamera als größter deutscher Schauspieler des Jahrhunderts. Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern.
„Und Sie sind Sängerin?“, fragte Carola „Da oben?“
Natalja nickte, sah mich an.
„Und wo kommen Sie eigentlich her?“, fragte Carola.
„Nischni Nowgorod“, sagte sie. „Gorki.“
„Die Mutter“, sagte Fredo.
„Was?“, fragte Tom.
„Maxim Gorki. Die Mutter. Das Buch. Bist du zu jung für“, sagte Fredo.
Natalja sah zwischen meinen Brüdern hin und her.
„In Nischni Nowgorod, da gibt’s kein Kussverbot und keine Hungersnot“, sagte unser Vater.
Frau Herrmann sah ihn bewundernd an.
„Peter Alexander“, sagte er.
„Zar Peter?“, fragte Natalja.
Ich schüttelte den Kopf.
„Heidschi bumbeidschi bum bum“, sagte mein Vater. Er erhob sich vom Sessel und verließ langsam das Wohnzimmer. Wir schauten ihm hinterher, als trete er von einer Bühne ab. Vielleicht legte er sich schlafen, wie im letzten Jahr. Er blieb nochmal stehen, drehte sich zu uns um und sagte „Chandikap“ und dann „plocho“. Er lief kopfschüttelnd weiter. Er hatte wahrscheinlich gar nicht mitbekommen, dass es seit einem Dreivierteljahr Krieg gab. Er lebte in der Peter-Alexander-Welt. Mit Heinz Rühmann, Ivan Rebroff, der Gruppe Dschingis Khan. Wirf die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land. Hohohoho. Hey!
„Mussten Sie Russland aus politischen Gründen verlassen?“, fragte Carola in die Stille.
Von der Antwort hing womöglich ab, ob sie bis zur Bescherung bleiben konnte, als CDU-Abgeordnete. Wenn sich rumsprach, wer bei ihrem Schwiegervater zu Besuch war, gab es im Januar eine Kleine Anfrage im Brandenburger Landtag. Ist es wahr, dass sie mit Russen feierten, während Putins Truppen in der Ukraine Wohngebiete bombardierten?
Natalja atmete aus. Vielleicht sagte sie gleich die drei Sätze auf, die in Holzmüllers Faltblatt gestanden hatten. Ein Schwur auf die Werte der Demokratie. Ich dachte an die deutschen Fußballer, die sich in Katar die Hände vor den Mund gehalten hatten. Die Armbinde der Ministerin auf der Tribüne. All die Gesten.
„Anna Netrebko darf nicht mehr in München singen und auch nicht in New York, weil sie sich nicht ausreichend vom Krieg distanziert hat“, erklärte Tom. Und an Carola gewandt: „Und deine Bundeskanzlerin würde sie auch nicht mehr zum Essen einladen.“
„Meine Bundeskanzlerin?“, fragte Carola.
„Meine war sie jedenfalls nicht“, sagte Tom.
„Anna Netrebko?“, fragte Natalja.
„Ja, sie war mal zum Abendessen bei der Kanzlerin“, sagte Tom.
„Vor oder nach Minsk?“, fragte Carola.
„Minsk?“, fragte Natalja.
„Das Abkommen, Normandieformat, pipapo“, sagte Fredo.
Wir schienen in eine Talkshow geraten zu sein. Der politische Stammtisch von Bestensee. Der Gastgeber war auf dem Klo. Oder im Bett. Seine Nachkommen organisierten eine neue Weltordnung unterm Weihnachtsbaum.
„Ich wäre froh, nicht in New York singen zu dürfen“, sagte Natalja. „Ich darf nur nicht singen in Neustrelitz.“
Frau Herrmann schaute, als würde ihr der Vergleich das Hirn sprengen.
Unser kleiner Bruder Tom holte zu einem Vortrag aus, in dem er die Verlogenheit der deutschen Politik anprangerte. Es kam alles vor: die Profite der großen westlichen Gaskonzerne, die Bandenwerbung in Katar, die Flugbereitschaft der Bundesregierung, die F35-Bomber, die sie bei den Amerikanern kauften, der deutsche Kampfpanzer Puma, der in jedem Manöver ausfiel, Boris Johnson, der die Friedensverhandlungen in Istanbul torpedierte und natürlich Olaf Scholz bei den Saudis. Es war wohl als Solidaritätsadresse an unseren russischen Gast gedacht, aber man hatte nicht den Eindruck, dass ihm Natalja leid tat. Es ging ums Prinzip. Carola räusperte sich. Sie vertrat hier den Nachbarwahlkreis des Bundeskanzlers und der deutschen Außenministerin, mit anderen Worten: die Welt.
„Der russische Angriffskrieg stellt uns alle vor große Herausforderungen“, erklärte sie, holte Luft und stoppte dann, weil sie eigentlich alles gesagt hatte.
Natalja trank ihr Weinglas aus, Fredo schenkte nach. Sie kippte auch das schnell. Dann stand sie auf und bewegte sich in die Mitte des Raumes. Im Haus hörte man etwas rumpeln. Vielleicht arbeitete mein Vater an seinem Handicap, dem schlechten. Frau Herrmann stand auf und lief in Richtung des Gerumpels. Natalja suchte einen festen Stand. Man sah die Spuren ihrer Winterstiefel auf der Auslegware. Sie breitete die Arme aus, sagte ohne Vorbereitung: „Arie von Schneemädchen. Snegurotschka.“
Carola sah mich an, ich nickte. Tom sagte so leise, dass ich es gerade noch hörte: „It ain’t over till the fat lady sings.“ Ich hätte ihm gern ins Gesicht geschlagen.
Dann sang Natalja ihre Arie aus der Oper, die sie in Neustrelitz nicht singen konnte. Oksanas Lied. Für einen Moment konnte ich mir vorstellen, welchen Text sie für den Spielplan des Stadttheaters Neustrelitz hätte schreiben können. Die russische Diva Natalja in der Garnisonsstadt der Roten Armee. Die Gutsherrentochter Oksana im Zarenreich. Ein Licht fiel auf die Zeit, zumindest bildete ich mir das ein. Meine Schwägerin Carola schaute ängstlich aus dem Panoramafenster in den verstruppten, matt vom weißen Weihnachtsstern beleuchteten Garten unserer Eltern. Vielleicht hatte sie Angst, dass ihre Wählerschaft dort draußen eine Bürgerwehr bildete. In Bestensee war allerdings nicht klar, wen die bewachen würden. Die ganz Rechten kamen ja schon wieder in Russland an. Es wäre denkbar, dass gleich besorgte Bürger ins Wohnzimmer des Optikers stürmten und die russische Diva auf ihr Schild hoben.
Natalja war in ihrer Rolle versunken, sie wiegte sich wie Oksana, die goldene Schuhe trägt, die der Teufel der Zarin abschwatzte, damit sie den Schmied Wakula aus dem ukrainischen Dorf Dikanka heiratete.
Als sie fertig war, klatschten wir. Natalja verbeugte sich. Der Knicks, endlich. „Das war eine Arie aus der Oper: ‚Die Nacht vor Weihnachten‘ von Rimski-Korsakow. Das Libretto setzt sich übrigens sehr für demokratische Verhältnisse in der Kunst ein“, sagte ich wie ein Klassikradio-Moderator. „Und es gibt viele Zitate ukrainischer Volkslieder.“
„Gut“, sagte Carola. Sie schien erleichtert.
Frau Herrmann und mein Vater kehrten zurück. Er trug ein kleines Päckchen. Sie führte ihn zu seinem Stuhl. Er setzte sich vorsichtig, das Päckchen im Schoß.
„Du hast den Kulturteil verpasst, Pops“, sagte Fredo.
Mein Vater sah seinen ältesten Sohn an, der Blick des Paten strich über ihn wie ein Scanner.
„Ich kann mein Unternehmen nicht an jemanden übergeben, der auf Socken zu einem Geschäftstermin erscheint“, sagte er. Ich sah auf Fredos Stoppsocken, sie hatten die Weihnachtsfarben, grün und rot.
„Was denn für ein Geschäftstermin, Pops?“, fragte Tom.
Unser Vater hob leicht die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er sah plötzlich anders aus, voller im Gesicht. Er hat sich Papiertaschentücher in die Backen gesteckt, dachte ich, wie Marlon Brando, als er zum Casting für Vito Corleone erschien. Er hatte das früher manchmal gemacht, als wir Kinder waren. Frau Herrmann nickte ihm zu, offenbar nahm er an, dass wir uns hier zu einer Art Testamentseröffnung unterm Baum versammelt hatten. Die Familie.
Fredo starrte auf seine Weihnachtssocken, als sei dort unten der Schlüssel zum Familienschatz versteckt. Seine Frau Carola wechselte das Thema, bevor es zu spät war: „Das war sehr schön, Natalja. Aber euer Weihnachten ist doch erst im Januar, oder?“
„Väterchen Frost“, sagte Fredo tapfer. „Jolkafest und so weiter.“
„Ich bin Jude“, sagte Natalja.
Offenbar war ihre russische Seele noch komplizierter, als ich angenommen hatte. Man spürte, wie das Weltgetriebe in unserem Wohnzimmer knirschte. Die Rollen waren gerade noch so schön verteilt gewesen.
„Jüdin“, sagte Carola, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.
Natalja sah sie fragend an.
„Du sagtest Jude, aber du bist ja Jüdin“, sagte Carola. „Genau genommen.“
Der deutsche Charakter in zwei Wörtern.
Unser Vater starrte ins Nirgendwo, auf der Suche nach einem Erben. Ich war der einzige Sohn, der angemessene Schuhe trug, hatte aber keine Ahnung von Brillen.
„Was hast du denn da eigentlich mitgebracht, Pops?“, fragte Tom und zeigte auf das Paket, das im Schoß unseres Vater lag. Der sah ihn an, als müsste er überlegen, wer er sei. Dann rief er: „Meine Makarow natürlich“, schlug das Papier auseinander, und da lag eine Pistole.
„Jürgen!“, rief Carola.
„Die habe ich einem Major aus Teupitz abgekauft. In den 90ern. Kurz bevor die Rote Armee abzog“, sagte mein Vater und nahm die Pistole in die Hand. Er lächelte Natalja an. Vermutlich dachte er, er bereite seinem russischen Gast eine kleine Freude mit der sowjetischen Wumme.
Natalja trat einen Schritt auf mich zu.
„Sagtest du, es gibt See, Michael?“, fragte sie und nickte in Richtung Panoramafenster. In Richtung Freiheit. Mein Name klang jetzt russisch. Michail.
Wir standen auf dem Steg und sahen auf den schwarzen See. Es nieselte. Es hätte mich nicht überrascht, wenn dort drin im Haus ein Schuss gefallen wäre. Die Frage war, wen er treffen würde. Die Ladestation für Fredos Volvo? Oder Fredo selbst? Im 2. Teil des Paten wurde Fredo beim Angeln erschossen, weil er die Familie verraten hatte. Kamen wir irgendwann noch mal raus aus unseren Rollen? Oder würden wir in ihnen sterben?
Aus der Stille der Nacht löste sich ein Geräusch, das lauter wurde. Ein Helikopterknattern. Bald sah man, dass der Hubschrauber mit einem Suchscheinwerfer durch die Heilige Nacht strich. Es schien mir, als reagierten sie auf einen Schuss, der noch nicht gefallen war. Überall lauerte Gefahr. Exilrussen, Landadelige, Verschwörer. Natalja nahm meine Hand. Sie beruhigte mich, nicht ich sie, dachte ich. Sie hatte warme Hände.
Der Helikopter flog über uns hinweg, weiter in Richtung Süden. Dort schien er im Himmel stehen zu bleiben. Die Suchscheinwerfer der Polizei leuchteten über Motzen wie der Weihnachtsstern.