Simon Strauss schrieb in der FAZ über die kurze Zeit des Dichters Gottfried Benn (1886 – 1956) in Prenzlau:
„…Ein Name, der bislang auf allen Prenzlauer Listen fehlt, ist der des Dichters Gottfried Benn. Seine Beziehung zu Prenzlau ist nur wenigen bekannt. Dabei war sein – zugegebenermaßen sehr kurzer – Aufenthalt in der Stadt für sein weiteres Leben und Schreiben entscheidend.
Benn kam im April 1912 nach Prenzlau, um den zweiten Teil seiner schon am 1. Oktober 1910 in Berlin begonnenen aktiven Militärzeit anzutreten. Kurz vorher hatte er erfolgreich alle Abschlussprüfungen absolviert und sein Medizinstudium an der Berliner Kaiser-Wilhelms-Akademie mit einer statistischen (und nur als genügend bewerteten) Dissertation über „die Häufigkeit von Diabetes mellitus im Heer“ beendet.
Im Rang eines Unterarztes wurde der fünfundzwanzigjährige Benn beim Prenzlauer Infanterieregiment 64 eingestellt, das sich im Deutsch-Französischen Krieg in der Schlacht bei Mars-la-Tour großen Ruhm erworben hatte. Als Benn nach Prenzlau kam, zählte die Stadt 26 800 Einwohner. Davon waren über sechstausend Militärs. Es wird also eine korpsgeistige Stimmung geherrscht haben, getragen von jenem durch das preußische Militär geprägten gesellschaftlichen Habitus, den Benn in dieser Zeit annahm und nie wieder ganz verlieren sollte. Sosehr der märkische Pfarrerssohn, dessen linkes Augenlid bei einer Mensur nach einem „vortrefflichen Durchzieher“ eines Zimmernachbarn verletzt wurde und fortan leicht herabhing, das militärische Leben als Ideal schätzte, so sehr litt er an seiner praktischen Durchführung. Die
unsinnlich-antiintellektuelle Atmosphäre,
die der angehende Dichter in Prenzlau erlebte, hat Eingang gefunden in das aus persiflierenden Gesprächsfetzen des Offiziersjargons montierte, frühexpressionistische Gedicht „Kasino“, das 1912 in der von Alfred Kerr herausgegebenen Avantgarde-Zeitschrift „Pan“ erschien:
„Eine Kugel muß man sich im Kriege immer noch aufsparen: Fürn Stabsarzt, wenn er einen verpflastern will. Na Prost, Onkel Doktor! – Vorläufig bin ich ja noch zu rüstig. Aber wenn ich mich mal auf Abbruch verheirate: Brüste muß sie jedenfalls haben, Daß man Wanzen drauf knacken kann! – Kinder! Heut Nacht! Ein Blutweib! Sagt: Arm kann er sein und dumm kann er sein; Aber jung und frisch gebadet. Darauf ich: janz ihrer Meinung, Gnädigste, Lieber etwas weniger Moral Und etwas äußere Oberschenkel. Auf dieser Basis fanden wir uns. Was für Figuren habt Ihr denn auf dieser Basis aufgebaut? Lachen einigt alles.“
Benns Biograph Holger Hof („Gottfried Benn – Der Mann ohne Gedächtnis“, 2011, Klett-Cotta) vermerkt, dass er sich am 1. April „mit Schulden im Gepäck und einem noch nicht bezahlten Koffer in der Hand“ bei seiner Truppe in Prenzlau meldete. Da hatte er gerade sein Debüt, das sechzehnseitige lyrische Flugblatt „Morgue“, beim Kleinverleger Alfred Richard Meyer veröffentlicht und bei der Kritik einiges Aufsehen erregt.Während in Berlin die erste große Futuristen-Ausstellung eröffnet wurde und Filippo Tommaso Marinetti im Cabriolet durch die Stadt fuhr, machte Benn, wie er sich später erinnerte, „auf den Kartoffelfeldern der Uckermark die Regimentsübungen mit“. Kurz nach seiner Ankunft in Prenzlau, am 9. April 1912, starb Benns Mutter mit 54 Jahren an Krebs. In einem Brief an seinen Studienkollegen Leo Königsmann schrieb er voller Verzweiflung aus Prenzlau:
„Einsamer und verwaister fühlt man sich nun. Wenn es auch schließlich nur das war, dass sie manchmal sagte, man sollte sich neue Nachthemden kaufen, oder sie einem neue Strümpfe schickte, es war doch jedenfalls Liebe, die nicht mal Dank erwartete und glücklich war über jedes gute Wort. Und die eben da war, wenn man sie brauchte.“
Ein Jahr später fasste Benn seine Trauer in ein Gedicht, dessen Zeilen bis heute zu den innigsten deutscher Sprache gehören:
„Ich trage dich wie eine Wunde /
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt /
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt /
das Herz sich nicht draus tot. /
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre /
Blut im Munde.“
Benn in Prenzlau: Das ist eine Episode, nicht mehr. Und doch scheint sich Benn hier in dieser Stadt, in diesen wenigen Monaten, dazu entschlossen zu haben, sein Leben zu ändern. Nicht mehr Offizier, sondern Dichter werden zu wollen. Der Abscheu vor dem Abfall des Ideals in die Wirklichkeit, der Tod der Mutter, die gedankliche Enge des Offizierskasinos – all das strapazierte und reizte seine Nerven so sehr, dass er offenbar einen radikalen Entschluss traf. Anfang Juni, kurz nachdem er vom Unter- zum Assistenzarzt aufstieg, wurde ihm von der Prenzlauer Kommandantur schon wieder ein dreimonatiger Urlaub gewährt. „Die Ereignisse um seinen Abschied lassen sich nur in groben Umrissen, rekonstruieren“, schreibt Biograph Hof, „die eigentliche Ursache bleibt unklar.“ Was sich aus den wenig erhaltenen Briefen des Sommers 1912 ergibt, erweckt den Eindruck einer vorgeschobenen Krankheit: Die von Benn kolportierte offizielle Version lautet, dass „sich nach einem sechsstündigen Galopp bei einer Übung eine Niere lockerte“. Eine medizinisch nur schwer nachweisbare Wander- oder Senkniere bot Benn die Möglichkeit, Prenzlau zu verlassen, ohne das Gesicht zu verlieren. Gegenüber seinem Freund Königsmann verweist Benn auch auf „innere Gründe“, die ihn nicht „felddienstfähig“ machten, spricht unter anderem von „dem unheimlichen Drang nach Reisen und anderen Erdteilen“, die seine Entscheidung beeinflusst hätten.
Dass Benn diesen Drang in Prenzlau spürte –
„wo drei Giebel und ein grüner Zaun eine Straße sind und sechs solcher Straßen um eine alte Kirche die ganze Stadt ist“,
wie er damals in einem Brief schrieb –, kann man auch heute noch nachfühlen. Insbesondere, wenn man vor der „Roten Kaserne“ steht, jenem monumentalen Gebäude in der Karl-Marx-Straße, in dem die Angehörigen des Infanterie-Regiments seit 1879 untergebracht waren. Auch Benn könnte hier abends an einem der Fenster gestanden und auf das Exerzierfeld vor ihm geschaut haben. Später waren hier Einheiten der Luftwaffe stationiert, 1949 zog eine Volkspolizei-Bereitschaft ein, zuletzt ein Pionier-Bataillon, das teils aus Bausoldaten bestand. 1994 wurde das Gebäude zur Kreisverwaltung umgebaut. Jeder, der heute in der Gegend etwas bauen will, muss seinen Antrag hier stellen – in einem der großräumigen Büros, die noch immer nicht ganz daran gewöhnt sind, dass hier keine Stiefelhacken mehr gegeneinanderschlagen.