Moritz Rinke: “Die Wahrheit über Polter”

Foto: Jabs

Foto: Jabs

MORITZ RINKE 

„DIE WAHRHEIT ÜBER POLTER“ 

Als ich vor vielen Jahren begann, zu stürmen, wusste ich noch nicht, für welche existenzielle Lebensform ich mich entschieden hatte. Ich war jung und kannte Gerd Müller, Wolfgang Overath, Manni Burgsmüller, Horst Hrubesch oder Karl-Heinz Rummenigge, aber ich wusste nicht, was in ihnen vorging, was diese Stürmer im Innersten zusammenhielt.

Von außen bewunderte ich bei Müller die Beweglichkeit, bei Overath die Technik, bei Burgsmüller den Spielwitz und bei Rummenigge die Dribblings, mit denen man heute vermutlich nicht mal mehr an einer Verteidigerin von Turbine Potsdam vorbeikäme. Hrubesch machte mir Mut. Dass man mit nur einer einzigen Fähigkeit, quasi ohne wirklich Fußball zu spielen, sogar Nationalstürmer werden konnte! Ich spielte mich durch sämtliche Kreisligen, Bezirksligen bis zur Verbandsliga in einer hochverdünnten Mischung aus Burgsmüller und Müller und galt, das darf ich heute mit Stolz sagen, als niedersächsisches Stürmertalent, als Bomber von Worphausen, später Worpswede, inklusive Probetraining bei Preußen Münster, 2. Liga, bis ich nach einem Trainerwechsel plötzlich auf der Bank saß, im Pokal gegen Osterholz-Scharmbeck.

Ich würde nicht genug nach hinten arbeiten, sagte der Trainer und zerstörte mein bisheriges Leben. Ein Bomber arbeite nicht nach hinten, entgegnete ich, aber Widerspruch gab es in Dorfvereinen nicht.

Als ich wieder eine Chance bekam, auswärts beim FC Wilhelmshaven, arbeitete ich wie ein Irrer nach hinten, bis mich der Vorstopper, den gab es damals noch, anraunte, was ich hier denn auf seiner Position machen würde. Und der Trainer setzte mich wieder auf die Bank mit der Begründung, ich hätte kein Tor geschossen, schlimmer noch: Ich hätte in der einen Situation vor dem Tor querlegen müssen, und dass wir keinen Punkt aus Wilhelmshaven mitgenommen hatten, sei einzig und allein meine Schuld. Damit war meine Psyche im Arsch beziehungsweise es wäre besser gewesen, wenn sie sich da von vornherein wirklich befunden hätte, denn Tore erzielt man als Stürmer sinnbildlich besser mit dem Hintern, als mit dem Kopf, der immer zu lange nachdenkt, soviel weiß ich heute.

Seltsamerweise musste ich genau an meine Zeit als Jugendstürmer denken, als ich den Union-Stürmer Sebastian Polter bei einem Heimspiel beobachtete. Zuerst fand ich ihn gar nicht, ich sah ihn als allererstes an der Außenlinie, tief in der eigenen Hälfte. Er verteidigte, es sah bemüht aus. Polter: ein Baum, ohne Blätter. Typ Carsten Jancker, 90er Jahre. So eine Art Wandstürmer, ganz anders als ich, der immer hart an der Abseitslinie tänzelte wie später Filippo Inzaghi. Als Polter in der 5. Spielminute, gut eingesetzt von Felix Kroos, auf den gegnerischen Schlussmann zulief, seinen Sturmlauf vom Innenverteidiger leicht abgedrängt nach rechts verlagerte, sprang ich auf. Links von ihm war Kenny Prince Redondo mitgelaufen, Polter hätte querlegen müssen, wie ich damals in Wilhelmshaven hätte querlegen müssen, doch Polter schoss. Der Torwart war nicht sonderlich überrascht, der Winkel war zu verkürzt, die Chance vergeben. Für mich war sofort klar: Dieser Polter hatte bestimmt einen ähnlichen Dorftrainer gehabt wie ich und er stand unter Druck wie ich in Wilhelmshaven. Ein Stürmer, der nicht unter Druck steht, spielt in so einer Situation ab oder er ist blind.

Man möchte am liebsten von der Tribüne steigen und zu dem Stürmer laufen und sagen: Junge, ich weiß genau, was in dir vorgeht! Du hast bestimmt auch seit 4 mal 90 macht 360 Minuten nicht mehr getroffen! Oder du denkst wahrscheinlich, dass du nur noch spielst, weil die anderen Stürmer noch nicht fit sind und darum wolltest du eben unbedingt treffen, dabei hättest du wie ich in Wilhelmshaven querlegen müssen, guck dir das bloß nicht in der Wiederholung an! Denk einfach an Miroslav Klose, den Weltmeister, der war schon 990 Minuten ohne Tor, Thomas Müller noch länger, sogar Lewandowski, der Universalstürmer, kennt das, alle! Die Seele eines Stürmers kann sich schneller verdunkeln als der Himmel und schneller als die aufgewühlte See. Und die Dunkelheit und diese schrecklich finstere Torlosigkeit, die von außen in den Stürmer hineingetragen und hineingeschrieben wird, ist ein schleichendes, schwarzes Gift für uns, komm in meine Arme, Polter, ich glaub an dich.

Ja, in der Torlosigkeit eines Stürmers liegt die Wahrheit und die Seele der wahren, der guten, der besten Stürmer. Man kann Torinstinkt haben und ein Antizipationsstürmer sein. Man kann ein flankenabnehmender, kopfballstarker Stoßstürmer sein wie Polter. Man kann eine hängende Spitze oder eine falsche Neun aus der Tiefe sein wie Mario Götze, falls den noch jemand kennt. Man kann aber auch eine klassische Neun sein, ein Außenstürmer, ein Halbstürmer oder Verbindungsstürmer oder Mittelstürmer oder Zentralstürmer; man kann Pizarro, Fernando Torres, Messi, Aubameyang, Robben, Rooney, auch, ja, Ronaldo heißen usw. – wenn du aber nicht verdammt noch mal die 1000prozentige Umarmung und den Glauben des Trainers und der Mannschaft spürst, dann hilft alles nichts, dann vergesst es, lasst es, ja, so geht man nicht mit Stürmern um und setzt sie im Pokal gegen Osterholz-Scharmbeck einfach auf die Bank! Fragt stellvertretend Gomez, als er bei Bayern und Wolfsburg auf der Bank schmorte, vor sich hindörrte und dann, kaum da man ihn wieder liebte, aufblühte und danach traf und traf und immer noch trifft, da man ihn und seine Seele umarmte. Natürlich sollst du alle im Team umarmen, aber umarme den Stürmer immer ein bisschen länger, denn die Höhen und Tiefen zwischen einem Torerfolg und der schrecklichen Torkrise, der vergebenen Chance, der Hundertprozentigen, der Todsicheren – sie verdunkeln die Seele des Stürmers wie sie vielleicht nur noch die Seele des Torwarts verdunkeln können. Torhüter und Stürmer sind die Figuren des Künstlerdramas im Fußball.

Helmut Schulte, der Sportdirektor, den man bei Union den Leiter der Lizenzabteilung nennt, sagte mir bei einem Frühstück in Charlottenburg: »Wenn du zu viele Stürmer holst, wirst du als Verein vielleicht trotzdem weniger Tore schießen. Stürmer sind so, dass du sie manchmal untereinander verstecken musst, damit jeder denkt, er sei der einzige, gerade bei einem 4 : 2 : 3 :1-System, wie wir es gerade oft spielen.«

Leider gab es so einen wie Schulte damals in meinem Dorfverein nicht, da wollte jeder stürmen.

Polter erzielte dann übrigens noch das spielentscheidende 2:1, natürlich mit dem Kopf. Im nächsten Heimspiel flog er dann vom Platz. Er foulte den Sechser vom SV Sandhausen rüde, völlig unnötig und wieder irgendwo, vermutlich nach hinten arbeitend an der Außenlinie. Es war ein ungeschicktes, unstürmerisches, ja, ein fehlgeleitetes Foul. Daran ist meines Erachtens natürlich sein und mein Dorftrainer schuld.

Im nächsten, im wichtigsten Spiel der Saison bei Eintracht Braunschweig soll dann für den gesperrten Polter Philipp Hosiner auflaufen, kein Stoßstürmer wie Polter, eher ein Kombinationsstürmer, der eigentlich als Nummer eins für Bobby Wood im Sturm zu Union gekommen war, sich verletzte, wodurch ihn Quaner ersetzte, bis dieser verkauft und als neuer erster Stürmer Polter für viel Geld aus England geholt wurde. Und nun also wieder Hosiner im Stürmerkarussell. »Gelingt es ihm, Polter zu ersetzen, hat seine Mannschaft in Braunschweig eine realistische Chance. Hosiner traf bisher alle 131 Minuten, Polter alle 204 Minuten.«, schreibt der Tagesspiegel am Vortag des Union-Finales. So etwas liest natürlich auch Polter, der eigentlich für einen Stoßstürmer sehr feine Gesichtszüge hat, wie ich in der Mixed Zone beobachtete. Und wenn Hosiner Polter nun tatsächlich in Braunschweig »ersetzen« und Union in die Erste Liga oder in die Relegation schießen sollte – wir wissen jetzt, dass es nicht dazu kam – dann würden alle in Berlin jubeln. Außer die Hertha vielleicht – und Polter. Man würde ihm das nicht ansehen, aber im Innersten Polters, da wüsste ich, was vor sich geht. Keiner wird gerne ersetzt, ganz besonders nicht Stürmer. Wir Stürmer sind nun mal was Mentales.