Greifswalder Studentenleben vor 45 Jahren

Uni-Gryps

Was mit gerade wieder bewusst wurde:
Mitte der Siebzigerjahre ließ es sich in Greifswald vortrefflich studieren. Der Anteil der Studentenschaft an der bürgerlichen Stadtgesellschaft war groß. Kaum jemand hatte eine private Unterkunft, fast alle wohnten in oft abenteuerlich eingerichteten Wohnheimen. Für DDR-Verhältnisse wurden an der ehrwürdigen Uni erstaunlich viele Traditionen gepflegt. In Studentenkellern der Institute frönte man z. B. dem Kommersgesang und im Geologenkeller wurde regelmäßig pünktlich zur mitternächtlichen Stunde “Der Steiger kommt” angestimmt. Alle Möglichkeiten zu gemeinsamen Feiern wurden weidlich ausgenutzt.
Es gab aber nur eine große Party für die Studiosi der gesamte Alma Mater Gryphiswaldensis. Einmal im Monat wurde in die Hauptmensa in der Bahnhofstraße der Hansestadt eingeladen, zur legendären “Physiker-Disko”. Eintrittskarten waren begehrter als Anmeldungen für einen Shiguli. Große Hilfe war neben dem persönlichen Kontakt zum DJ Pagels das Studium an der naturwissenschaftlichen Fakultät. Die Geologen, Mathematiker, Chemiker, Biologen standen bei den gastgebenden Physikern hoch in der Gunst. Frei verkäuflich war kaum ein Billet. Wenn man dennoch in den mehr als spartanisch hergerichteten Tanzboden gelangen wollte, blieb wagemutigen Kommilitonen oft nur ein beschwerlicher Weg über hofseitige Nebengebäude. Es galt, über fragile Glasdächer in die Fenster der Mädchentoilette zu klettern. Die Diskothek eröffnete mit einem extrem kurzen “Kulturprogramm”, es wurden ein paar Dias projiziert. dann begann eine musikalische Hatz. Die Spulentonbandgeräte bretterten unablässig und in beachtlicher Lautstärke die geliebten Ohrwürmer der angesagten Combos in den spärlich beleuchteten Raum: Jethro Tull, The Troggs, Santana, The Kinks, Yes, The Doors, Deep Purple, The Lords, Manfred Mann, The Hollies und was weiß ich. Eine Unterbrechung des Musikhörens gab es um 22 Uhr: Die Biermesse wurde gelesen!

 

Vorsänger:

Seid Ihr bereit, die Heilige Messe des Bieres mit mir zu lesen?

Corona:

Sumus!

Vorsänger:

Sind die Kerzen angezündet?

Corona:

Sunt!

Vorsänger:

Ist der Stoff präparieret?

Corona:

Est!

Vorsänger:

In den wie viel heiligen Zügen soll das Bier geleeret werden?

Corona:

In den sieben heiligen Zügen!

Vorsänger:

So setzet an!

Eins-Zwei-Drei-Vier

Corona:

Oh, wie mundet uns das Bier!

Vorsänger:

Fünf-Sechs-Sieben

Alle:

Ist auch keine Nagelprobe drin geblieben?

/:Die Zicke, die Zacke, die Hoi! Hoi! Hoi!

Greifswalder Studenten sind immer dabei.:/

Aber eins, aber eins, das ist gewiss:

die Greifswalder Uni ist der letzte Schiss!

Aber eins, aber eins, das bleibt bestehn:

Die Greifswalder Uni wird nie untergehn!

Vorsänger:

So sei es auch mir gestattet, einen Fetzen aus dem Stoffe zu reißen!

Corona:

Sit!

Eins-Zwei-Drei-Vier-Fünf-Sechs-Sieben

Alle:

Ist auch keine Nagelprobe drin geblieben?

/:Die Zicke, die Zacke, die Hoi! Hoi! Hoi!

Greifswalder Studenten sind immer dabei.:/

Aber eins, aber eins, das ist gewiss:

die Greifswalder Uni ist der letzte Schiss!

Aber eins, aber eins, das bleibt bestehn:

Die Greifswalder Uni wird nie untergehn!

(Die Geologiestudenten hatten bei dieser Zeremonie viele Freunde, wenn denn der Kommilitone Schluchti einen Fünfliterballon vom selbstgemachte Hagebuttenwein im Jägerrucksack mitgebracht hatte und freizügig verteilte.)

Nebenbei: Diese Veranstaltung war eine Disko – getanzt wurde zumeist von Mädchen. Die Jünglinge mussten vordringlich auf ihre Bierpullen achten! Wenn man den Verlockungen der holden Weiblichkeit zu erliegen drohte und zum Paartanz schritt, konnte es passieren, dass das unter dem Stuhl oder auf dem Fensterbrett geparkte Bier von durstigen Gesellen gewissenlos ausgetrunken wurde. Regelmäßig wurden die geleerten Flaschen des übel mundenden Stralsunder Pils’ von dreisten Dieben geklaut, ließ man sie auch nur einen Augenblick unbeobachtet. Für vier Mal Leergut a 30 Pfennig Pfand konnte man wieder ein volles Bier erstehen. Ja, der Blick zu den sehr wohl oft bildschönen und wohlgeformten Bräuten wurde immer schärfer. Und es war bald 23:15 Uhr – “Frauenverteilung” – letzte Runde – ruhige “Schmusemusik” – Zeit des “Klammerblues”… Ich glaube bis heute, dass sich alle hübschen Mädchen von unseren vielleicht etwas wild daherkommenden Äußerlichkeiten ablenken ließen. Der zweifelsfrei feine Charakter der edlen Wesen blieb weitgehend unbeachtet, trotz schmachtender und sehnsüchtiger Blicke unsererseits. Jedenfalls kann uns kein einziger Zeitgenosse Tanzwut nachsagen, darauf bestehe ich bis heute. Regelmäßig trotteten später angetrunken Gestalten in den Morgen, nicht ohne sich zur Auswertung des Abends in einer nahegelegenen Studentenbude zu verabreden.