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Bücher, Fussball: Ronald Reng “Der große Traum”

Foto: Jabs

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Ich muss einfach noch mal auf ein famoses Fußballbuch hinweisen.
Ronald Rengs einzigartiges Werk “Der große Traum” könnte mehr als eine Möglichkeit aufzeigen, über den Fußballsport und seine Entwicklungen in der letzten Zeit nachzudenken.
Der Autor vermittelt tiefe Einblicke in die Welt der deutschen Nachwuchsleistungzentren.
Das Schicksal der drei Protagonisten aus dieser Blase Traumfabrik Profifußball wird über neun Jahre beleuchtet.
Der große Traum kulminiert heute in den unterschiedlichsten Alternativen: Marius Wolf ist mittlerweile Nationalspieler, Niko Reislöhner arbeitet als Fliesenleger und Fotios Katidis versucht sich als Versicherungsvertreter zu etablieren.
Ich glaube zu wissen, dass Ronald Reng nicht nur Ahnung vom Fußballsport hat, sondern auch der beste Sportbuchautor ist, er kann nämlich verdammt gut schreiben. Er ist völlig zu recht mit vielen Literaturpreisen geehrt.

Bücher: “Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant”

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102-Helga

“Der heutige Tag”
Seit fünf Jahren pflegt die Autorin Helga Schubert ihren Mann Johannes Helm. Über den schwierigen Alltag in dem kleinen Ort Neu Meteln hat sie ein Buch geschrieben, das zugleich traurig und optimistisch stimmt.

Bücher, Fussball: Eine schöne Fußballgeschichte von einem Bayern München-Fan über ein legendäres Spiel

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Benedict Wells:

Football, Bloody Hell!

Als Anhänger des FC Bayern hat man es mitunter nicht leicht. Man steht unter dem Generalverdacht, gar nicht zu wissen, wie sich verlieren anfühlt, und nur ein Erfolgsfan zu sein, kurz: ein verwöhnter Arsch, der sich den Verein bewusst nach Popularität und Siegbilanz ausgesucht hat. Einer, der bei einer Schlägerei auf dem Pausenhof nicht dem schmächtigen Außenseiter die Daumen drücken würde, sondern dem großen, grobschlächtigen Schultyrannen. Deshalb kann man bei Niederlagen auch nicht mit Trost und Schulterklopfern neutraler Fußballbeobachter rechnen, sondern wird meist mit Häme bedacht. Doch das änderte sich nach dem Championsleague-Finale gegen Manchester United im Mai 1999, als alles, was man über die Bayern und ihren Dusel zu wissen glaubte, plötzlich nicht mehr stimmte.

Was der Fachwelt bis heute jedoch unbekannt ist: an diesem dramatischen Spielausgang war einzig und allein eine Coladose schuld.

Aber fangen wir vorne an. Mitte der Neunziger war der FC Bayern noch längst nicht die weltweit operierende Siegmaschine der Jetztzeit, sondern bestenfalls internationales Mittelmaß. Dazu fast wöchentlich neue Schlagzeilen um Matthäus’ Liebesprobleme und seine Fehde mit Klinsmann, um Rehhagels Rauswurf, Scholls freche Sprüche oder Trapattonis Sprachwirrwarr. Von der Boulevardpresse wurde der Verein verächtlich „FC Hollywood“ getauft, allerdings hatte jeder rote Teppich mehr Stars zu bieten. Bei uns auf dem Rasen tummelten sich dagegen Spieler wie Dieter Frey, Oliver Kreuzer, Michael Sternkopf und Markus Schupp, und kaufte man doch mal international ein, dann eher im Discountsegment wie bei Emil Kostadinov, Slawomir Wojciechowski oder Mazinho. Die Kommerzialisierung des Fußballs steckte erst in den Anfängen, und auch finanziell war der Verein den anderen Bundesligisten noch längst nicht enteilt.

Im Gegenteil: Neidvoll blickte man damals als Bayernfan nach Dortmund, wo Stars wie Möller, Riedle, Chapuisat, Kohler, Sammer und César aufliefen. Trainer Hitzfeld verstand es wiederum, diese Ansammlung von Egos bei Laune zu halten, so dass nie Unruhe aufkam. Der Lohn waren zwei Meisterschaften in Folge, und 1997 schließlich die Krönung: Im Finale der Championsleague gewann Dortmund gegen die favorisierte Mannschaft von Juventus Turin den Titel, und das auch noch in München.

Take this, Bayernfans!

Und wie stand ich damals zu all dem? Nach der WM 1994 war bei mir das Fußballfieber ausgebrochen, nun brauchte ich nur noch einen Verein. Aus obigen Gründen fiel meine Wahl auf den BVB, doch da hatte ich die Rechnung ohne meinen damals besten Freund Alex gemacht. Denn der war bereits Dortmundfan und wollte keine Nebenbuhler. Stattdessen war er der Ansicht, dass ich als gebürtiger Münchner Bayernfan sein müsse. „Vergiss es“, sagte ich ihm immer wieder. Aber dann kam der zweite Spieltag der Saison 1994/95: Der große FC Bayern verlor mit 1:5 gegen Freiburg. Und irgendwie lag ein Zauber in dieser lächerlich hohen Niederlage. Als die Spieler gedemütigt vom Platz schlichen, bekam ich Mitleid; es war plötzlich „meine“ Mannschaft, „meine“ Verlierer. In diesem Moment wurde ich zum fanatischen Bayernfan, und das in einer Saison, in der wir am Ende nur Sechster wurden. Doch das machte nichts, denn es war eine Entscheidung fürs Leben. Man kann den Beruf wechseln, die Partnerin, den Wohnort, sogar den Glauben. Aber nicht den Verein.

Es folgten turbulente Jahre mit weiteren Boulevardschlagzeilen, dazu die Demütigung durch Kaiserslautern, die als Aufsteiger vor uns Meister wurden. Ein Königsklassen-Triumph wie der des Rivalen Dortmund schien damals undenkbar. Doch Ende der Neunziger keimte Hoffnung auf. Wunderbare Spieler wie Elber und Lizerazu stießen zu uns, Effenberg wurde als neuer Chef ins Team geholt und der vom BVB verschmähte Hitzfeld als Trainer installiert. Und mit einem Mal war es ruhig beim FC Hollywood. In der Saison 1998/99 folgte dafür teils berauschender Fußball, wir wurden mit fünfzehn Punkten Vorsprung Meister und standen im Pokalfinale. In der Championsleague besiegten wir zweimal hintereinander den FC Barcelona, warfen im Halbfinale das unberechenbare Dynamo Kiew raus und standen nun tatsächlich im Finale. Gegner: Manchester United.

Ich sah das Spiel während eines Italienurlaubs, im Restaurant „Epomeo“ in Forio. Damals war ich fünfzehn und solchen Ereignissen noch schutzlos ausgeliefert. Bei wichtigen Spielen stand ich regelmäßig vor dem Zusammenbruch, weinte bei Niederlagen, sprang bei Siegen wie ein Irrer durchs Zimmer und verließ vor Spielende oft den Raum, weil ich es nicht mehr aushielt. Und nun stand mein Verein zum ersten Mal seit zwölf Jahren und – viel wichtiger – zum ersten Mal in meinem Fanleben im wichtigsten Finale des europäischen Clubfußballs.

Vor dem Spiel machte ich mir große Sorgen. Schon in der Gruppe hatten wir zweimal gegen Manchester gespielt, beide Male nur knappe Unentschieden. Beckhams Flanken waren brandgefährlich, Dwight Yorke und Andy Cole galten als das beste Sturmduo der Welt, und Trainer Ferguson war schon damals eine Legende. Wie wir hatte auch Manchester nach einer fabelhaften Saison noch Chancen auf das Triple, und wie wir mussten auch sie im Finale auf wichtige Spieler verzichten. Bei uns fehlte u.a. Elber verletzt, bei ManU waren Paul Scholes und Kapitän Roy Keane gelbgesperrt.

Das Spiel fand im Camp Nou in Barcelona statt. Manchester spielte in bekanntem Rot, Bayern in den silbernen Championsleague-Trikots. Die Hymne ertönte, Alex Zickler blickte starr in die Kamera, Effenberg kaute Kaugummi, Kahn hatte den Blick des Todes aufgesetzt. Und ich war schon jetzt völlig am Ende und blickte nervös auf die anderen Bayernfans im Restaurant. Es war klar, dass ich dringend Beruhigung brauchte, irgendeinen Zauber, der mich und meinen Verein vor der gefährlichen Offensive von Manchester beschützte. Und wie Millionen Fußballfans fand ich meine Rettung im Aberglauben.

Meine Wahl fiel auf die kleine Coladose vor mir. Eine innere Stimme flüsterte mir zu: „Jedes Mal, wenn ManU im Angriff ist, musst du einen Schluck in den Mund nehmen. Wird der Angriff gefährlicher, dann schluck die Cola einfach runter und nichts kann passieren.“ Das klang erstaunlich logisch für mich, und das Beste: es wirkte auch. Dank der geheimen Kräfte einer kleinen roten Brausedose waren Bayern und ich fortan unbesiegbar. Denn während jeder Angriff des Gegners nun zwangsläufig verpuffte und Manchesters Offensive verblüffend zahm wirkte, führten wir schon seit der 6. Minute durch einen Basler-Freistoß mit 1:0. In der Halbzeit blieb ich als einziger der Fans im Restaurant und schaute starr auf die halbaufgegessene Pizza vor mir. Nur noch fünfundvierzig Minuten, dann hätten wir es geschafft. Dann wäre eine perfekte Saison gekrönt und wir endgültig im Fußballolymp, so wie Dortmund vor zwei Jahren gegen Turin. Das wäre einfach zu schön. Bitte, lieber Fußballgott. Bitte!

Anpfiff zur zweiten Halbzeit. In der Kabine hatte Alex Ferguson zu seinen Spielern Folgendes gesagt: „Am Ende dieses Spiels wird der Cup nur sechs Fuß von Euch entfernt stehen – und ihr werdet ihn nicht einmal anfassen dürfen. Und viele von Euch werden nie mehr so nahe rankommen. Wagt es ja nicht, hier nachher reinzukommen, ohne alles gegeben zu haben!“ Netter Versuch, aber was nutzte es, wenn im fernen Italien ein deutscher Teenager einen Schluck Cola im Mund hatte und dadurch weiterhin jeden Angriff seines Teams zerstörte?

Denn Manchester erspielte sich jetzt zwar ein paar Chancen, aber natürlich blieben sie durch meinen Dosenzauber ungenutzt. Und kaum, dass bei uns Scholl ins Spiel kam, drückte Bayern auf die Vorentscheidung. Effenberg mit einem Gewaltschuss, gerade noch so gehalten. Kurz darauf Scholl mit einem genialen Lupfer. Der Ball segelte wie in Zeitlupe über Schmeichel hinweg, der würde doch nicht wirklich ins Tor … doch, er würde … Nein, er prallte im letzten Moment gegen den Pfosten und wieder raus. Wie knapp, wie verdammt knapp. Ich blickte auf die Uhr. Nur noch gute zehn Minuten, beim Bildschirm oben links wie zementiert: Der Spielstand von 1:0 für uns. Es folgte wieder ein Bayernangriff, Gewühl im Strafraum, plötzlich knallte Carsten Jancker den Ball per Fallrückzieher an die Latte. Erst Pfosten, nun Latte!Ich konnte es nicht glauben. Schämte sich Manchester denn gar nicht für all dieses Glück?

Und dann kam die Nachspielzeit. Manche Ersatzspieler von Bayern trugen bereits die T-Shirts mit dem Siegeraufdruck unter ihren Trainingsjacken und warteten nur noch auf den Schlusspfiff, um auf den Rasen zu stürmen, und auch am berühmten Henkelpokal der Championsleague waren schon die Bändchen in den Farben des FC Bayern angebracht. Alles war bereit für die große Feier. Währenddessen trieb ManU noch einmal über die linke Seite den Ball nach vorne …

Später hieß es, dass Schiedsrichter Collina den Manchester-Spielern suggeriert hatte, es wäre ihr letzter Angriff. Es gab noch mal Ecke, und auch Torwart Schmeichel kam nun nach vorne. Alles oder nichts. Ich dagegen blieb ruhig, denn was sollte schon passieren? Zum einen gab es den berühmten Bayerndusel, den jeder kannte, und zum anderen besaß ich nachweislich ein Zaubermittel, gegen das jegliche englische Angriffswut nichts ausrichten konnte. Beckham legte sich den Ball zur Ecke zurecht, zeitgleich griff ich wieder nach meiner Coladose … und erstarrte. Sie war leer. Absolut leer. Nicht mal der kleinste Tropfen kam noch heraus. Ich hatte das Glück schluckzessive ausgetrunken, und jetzt war nichts mehr da.

Auf einen Schlag war ich in Aufruhr, starrte nervös durchs Restaurant, blickte wieder auf den Bildschirm, und dann stand ich mit einem Ruck auf. Ich musste hier dringend raus, schnell. Die anderen Fans an meinem Tisch wollten mich noch aufhalten, manche grinsten gönnerhaft oder lachten über meinen Aufbruch. Diese Idioten, sie hatten ja keine Ahnung, was für geheime Mächte sich gerade gegen uns verschoben hatten. Ich spurtete in Richtung Ausgang, da hörte ich in meinem Rücken bereits das Raunen, dann lautes Gefluche. Widerwillig kehrte ich noch mal ins Restaurant zurück und sah auf dem großen Bildschirm, wie die Manchester-Spieler ausgelassen feierten. Ein Gegentor, und das in der 91. Minute des Finales. Nein, verdammt. Nein!

Draußen vor dem Restaurant versuchte ich durchzuschnaufen. Während mir eine sinnlose Träne die Wange herunterlief, blickte ich auf die Menschen auf den Straßen, die das Spiel nicht verfolgten und keine Ahnung hatten, welche Dramen sich gerade abspielten. Dann riss ich mich zusammen – noch war schließlich nichts verloren! Wie Beckenbauer nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft schlenderte ich nun mit den Händen den Hosentaschen über Forios Dorfplatz und ging die Verlängerung durch. Der psychologische Schock würde tief sitzen, so viel war klar. Wir hatten fast das ganze Spiel mit 1:0 geführt, deshalb würde es dauern, bis die Bayern-Spieler den Rückschlag verdaut hatten. Die erste Halbzeit der Verlängerung würde also eher Manchester gehören, aber vielleicht könnten wir ja in der zweiten Halbzeit zurückschlagen. Doch wie sollten wir nur gewinnen, jetzt, wo die Coladose leer war?

Während ich meine Runde drehte und mich auf die Verlängerung einstimmte, kam ich an einem anderen Restaurant vorbei, das ebenfalls das Spiel zeigte. Ich blickte auf die feiernden Manchester-Spieler und schüttelte den Kopf. Okay, sie hatten in der Nachspielzeit ausgeglichen, das konnte man schon mal bejubeln, aber doch nicht ganze drei Minuten lang. Sagte der Schiedsrichter denn da gar nichts dazu? Genervt schaute ich mir noch mal die Wiederholung des Tors an. Ja, Eckball von links von Beckham, kannte ich schon, der Ball segelte in den Strafraum, klar … aber, Moment, wieso nahm er nun diese Flugbahn, das war doch ganz anders gewesen, und wieso jubelte hier nicht Sheringham, sondern plötzlich Solskjær?

Was war da nur los?

Es dauerte mehrere Sekunden, bis ich begriff, dass es ein anderer Eckball und ein anderes Tor war. Bis mir dämmerte, dass Manchester United ein unterlegenes Finale mit zwei Treffern in der Nachspielzeit gedreht hatte, einer in der 91. Minute und einer in der 93. Minute, gleich danach Abpfiff, und das alles im wichtigsten Spiel im Vereinsfußball. Kurz: Dass gerade etwas passiert war, was es in dieser komprimierten Dramatik im professionellen Fußball so noch nie gegeben hatte.

Ich sah die auf dem Rasen verstreut liegenden Bayern-Spieler und Lothar Matthäus, der seine Medaille für den zweiten Platz sofort wieder ablegte, ich sah David Beckham, der in die Kamera „I’m so sorry“ lachte und die ausgelassen tanzenden Manchester-Spieler, ich sah den hemmungslos weinenden Sammy Kuffour, und dann sah ich gar nichts mehr, denn ich weinte nun selbst. Minutenlang saß ich mitten auf dem staubigen Dorfplatz in Forio und schluchzte. Und in diesem Moment passierte etwas, was ich als Bayernanhänger so nur vom Hörensagen kannte: Neutrale Fans, zumeist Italiener, aber auch deutsche Urlauber, hatten Mitleid mit meinem Verein. Sie legten mir die Hand auf die Schulter und trösteten mich, geschockt von einem Spiel, das Kahn später die „Mutter aller Niederlagen“ nannte, während Ferguson nur konstatierte: „Football, bloody hell!“

Sie haben natürlich beide Recht, ebenso die vielen anderen, die über dieses Spiel und seinen ungewöhnlichen Ausgang geredet und geschrieben haben. Und doch konnten sie alle nicht ahnen, dass der wahre Grund für all das in Wahrheit nur eine leere Coladose gewesen war.

Bücher: Axel Hacke: “Ein Haus für viele Sommer”

Foto: Jabs

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Axel Hacke hat hier keine große Geschichte zu erzählen, aber er beobachtet das Geschehen und die Menschen in einem kleinen italienischen Dorf auf der Insel Elba sehr aufmerksam. So vermag der Schriftsteller seinem Nebenwohnsitz und häufig besuchtem Urlaubsdomizil unzählige kleine und sympathische Einblicke abzugewinnen. Er sinniert und sieht dem Vergehen der Zeit zu – Einfach mal nichts tun…
Eine solche Situation ist mir ziemlich fremd, aber der empathische Autor zog mich als Leser behutsam in den Bann seines Buchs. Mir stellt sich dennoch die Frage: Hätte ich wirklich viel von der großen, weiten Welt gesehen, wenn ich nicht immer zu Hause geblieben wäre?
Was man erlebt, ist immer weniger als das, was man verpasst hat. Da kann man machen, was man will.

Bücher: Mariana Leky: “Was man von hier aus sehen kann”

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Ein hochgelobter märchenhafter Roman, der sehr viel gelesen und gut verkauft wurde.
Auch ich bin von dem Buch fasziniert. Das Lesen schlug mich geradezu in seinen Bann und machte einfach riesigen Spaß.
Zitate:
“Du solltest mehr Welt hereinlassen.”
“Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.” (Das ist ein Zitat von Blaise Pascal.)
“Der Richtige ist der, der einem das Hinsehen erspart, wenn die Welt ihren Lauf nimmt.” (Mariana Leky meint, dass die Erzählerin hier irrt – “Der Richtige ist der, der neben einem steht, während man hinsieht.”)
“Wenn wir etwas anschauen, kann es aus unserer Sicht verschwinden, aber wenn wir nicht versuchen, es zu sehen, kann dieses Etwas nicht verschwinden.” (Auch die Autorin verstand diese Weisheit nicht und ließ sie sich von einem buddhistischen Mönch erklären: Man muss nur “anschauen” durch “unterscheiden” ersetzen. – Ich verstehe es auch mit dieser Erklärung nicht recht.)
Die Verfilmung des Buchs kam dieser Tage in die Kinos.

Bücher: Weihnachtsgeschichte 2022

Foto: Jabs

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Der Besuch der Russin 

Eine Weihnachtsgeschichte Von Alexander Osang

Wir kamen eine halbe Stunde zu früh, aber Fredo war schon da. Sein Volvo stand an der Ladestation, die er am Gartenzaun unserer Eltern aufgebaut hatte, obwohl die kein Auto mehr besaßen. Mein Vater hatte seinen Daimler vor zwei Jahren in die letzte Telefonzelle von Bestensee gefahren, die damals schon gar keine Telefonzelle mehr war, sondern eine dieser Kabinen, in denen die Leute ihre Bücher entsorgten. Er schaffte es in den Lokalteil der Märkischen. Die verstreuten Bücher und die S-Klasse mit dem Firmenaufdruck. „Neue Brille? Geh’ zu Hille.“ Lustig, dachten die Redakteure, der blinde Optiker. Unsere Mutter hatte ihren Mann gezwungen, endlich das Auto zu verkaufen. Dann war sie gestorben.

Papa brauchte keine Ladestation mehr, mein Bruder Fredo steckte hier seinen Claim ab.

Natalja sah auf ihr Handy. Sie war ständig auf Telegram, und natürlich verstand ich das. Da draußen war Bestensee, das war nicht mal mehr meine Heimat. Aussteigen mussten wir trotzdem.

„Frohe Weihnachten“, sagte der Fahrer.

„Ihnen auch“, sagte ich.

Er nickte und ich dachte, dass er vielleicht Muslim war. Oder Jude. Nein Jude eher nicht, dachte ich, und dann ärgerte ich mich, dass ich sowas überhaupt dachte. Ich würde ihm ein bisschen mehr Trinkgeld geben. Auch das eigentlich ein inakzeptabler Gedanke, im Nahostkonflikt, dem weltweiten.

„Wenn Sie denn Weihnachten feiern“, sagte ich.

„Bitte?“, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. Das war alles nicht mehr zu retten, in meinem Kopf nicht, nicht in diesem Uber. Am besten gar nicht mehr reden. Stille Nacht. Ich tippte Natalja leicht an. Sie sah auf, orientierungslos. Sie steckte das Handy weg und stieg aus, ich kroch hinterher in die feuchte Kälte. Der Wagen fuhr ab. Natalja sah sich auf der verlassenen Dorfstraße um, als fürchte sie einen Hinterhalt. Sie trug hohe Stiefel und hatte ihren Mantelkragen aufgeschlagen. Sie sah schön aus, geheimnisvoll hier in der Fremde Südbrandenburgs. Ich fühlte mich plötzlich auf schwieriger diplomatischer Mission.

Fredo machte die Tür auf. Er sah uns mit dem belustigten, gütigen Blick des älteren Bruders an.

„Natalja, Friedrich. Friedrich, Natalja“, sagte ich.

„Welcome“, sagte Fredo, mit einem Akzent, den er für russisch hielt.

„Danke“, sagte Natalja.

„Gut“, sagte ich.

Wir gingen ins Haus, es roch nach Gans, was mich entspannte, obwohl ich kein Fleisch aß. Ich fuhr mit der Hand über die gespundeten Bretter, mit denen mein Vater Anfang der 80er-Jahre seine kleine Diele tapeziert hatte. Er wäre lieber Tischler geworden als Optiker, hatte er mir auf meiner Konfirmationsfeier gestanden. Er wäre auch lieber Katholik gewesen als Protestant. Aber es ging nicht, sagte er. Es ging nicht, Junge! Er war schon ziemlich bezündet gewesen. Die Golfsäcke meiner Eltern hingen im Flur wie die Eier eines toten Elefanten. Alles vergeblich. Das Streben nach Glück und einem guten Handicap. Drinnen sang Frank Sinatra „Have yourself a merry little Christmas“. Mein Vater konnte Sinatras Spitznamen runterbeten wie einen Rosenkranz. Ol’Blue Eyes. The Voice. Sultan of Swoon.

„Du kannst die Schuhe anbehalten“, sagte ich, obwohl Natalja gar nicht angeboten hatte, ihre Stiefel auszuziehen. Ich wusste natürlich, dass alle andere Pantoffeln tragen würden oder diese Stoppsocken, die Fredos Frau Carola immer mitbrachte, thematische Stoppsocken. Ich würde meine Schuhe anbehalten, aus Solidarität, mit wem auch immer. Ich konnte mir Natalja nicht auf Strümpfen vorstellen. Ich fragte mich, ob Russen Gans aßen. Bestimmt. Die aßen doch alles, dachte ich und hätte natürlich auch diesen Gedanken lieber nicht gehabt. Ich dachte an Schwanensee. Tschaikowski, den traurigen Kinderschänder. Black Swan. Natalie Portman. Das Ballett in meinem Kopf tanzte immer schneller.

Mein Vater saß ganz allein im Wohnzimmer. Vorm Baum Geschenkkartons, obwohl wir uns wie jedes Jahr versprochen hatten, nichts zu schenken. Je klarer die Ansage, desto größer wurde die Pakete von Fredo.

„Papa“, sagte ich.

Er sah auf, lächelte, schien mit zitternder Hand Sinatra zu dirigieren, der jetzt „I’ll be home for Christmas“ sang.

I’m dreaming tonight of a place I love

Even more than I usually do

„Michael“, sagte mein Vater. „Hörst du? Der King of Swing.“

„Ja“, sagte ich und zeigte auf Natalja. „Natalja. Mein Vater.“

Mein Vater sah sie aus Augen an, die gleichzeitig trüb und leuchtend waren.

„Dobrii wetscher“, sagte er.

Natalja nickte kurz, vielleicht ein Lächeln, aber höchstens ein kleines, kein Knicks.

Als Holzmüller im Frühjahr angeregt hatte, dass Natalja, der russische Gast an unserem Theater, fürs Faltblatt mit dem Spielplan Mai/Juni irgendetwas zum Krieg sagen könnte, hatte sie genauso geschaut. Sie sollte ihre komplizierte russische Seele für das Programmheft des Stadttheaters Neustrelitz erklären. Mit nicht mehr als drei Sätzen allerdings, weil Holzmüller schon das halbe Faltblatt mit seiner Friedensbotschaft vollgeschrieben hatte. Holzmüller, der aus Wattenscheid kam, fielen zu Mariupol vor allem die Stalingradgeschichten seines Opas ein. Aber er war der Intendant. Im August hatte er beschlossen, im Dezember nicht wieder die Weihnachtsoper von Rimski-Korsakow aufzuführen, in der Natalja die Hauptrolle singen sollte. „Die Nacht vor Weihnachten“ hatte schon 1895 bei der Premiere in St. Petersburg dem Zaren missfallen. Jetzt missfiel sie Hanno Holzmüller vom Dreispartenhaus Neustrelitz. Sie zeigten Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Dickens lieben alle.

„Die neue Freundin, Mikey“, sagte meine Vater und winkte patenhaft. „War Zeit.“

„Kollegin, Papa. Natalja ist eine Kollegin aus Neustrelitz“, sagte ich. „Hab ich doch am Telefon gesagt.“

„Neustrelitz“, sagte mein Vater. „Das liegt in Mecklenburg-Vorpommern.“

Womöglich war das Leben, das ich dort oben seit zwanzig Jahren führte, immer mehr in Vergessenheit geraten, weil es keine Bedeutung hatte in Bestensee, wo es darum ging, wer den Brillenladen übernimmt. Hier war Fredo wichtig, der BWL studiert hatte und nicht Kulturwissenschaften. Fredo lebte im Speckgürtel und brachte Heiligabend auch keine Russin mit, sondern eine Landtagsabgeordnete der CDU.

„Richtig, Papa“, sagte ich. „Wir gucken mal in die Küche.“

„Meckpomm“, rief mein Vater uns hinterher. „Meckpomm!“

Im Flur fragte Natalja: „Ist dein Vater … dementisch?“

„Leicht“, sagte ich. „Leicht dementisch.“

Sie berührte mich am Arm. Aus der Küche kam uns Fredo mit zwei Sektgläsern entgegen.

„Tschampanskoje“, rief er. Sein Russisch hatte einen südbrandenburgischen Akzent. Er sagte: „Baschallstah!“

Natalja trank ihr Glas in einem Zug aus. Fredo schenkte nach. Carola, seine Frau, stand am Herd mit Frau Herrmann, die meinem Vater zur Hand ging, seit meine Mutter gestorben war. Sie machte eigentlich die Buchhaltung im Laden, keine Ahnung, was ihr mein Vater versprochen hatte. Sie trug die Schürze meiner Mutter, sie schlüpfte in deren Rolle.

Carola drehte sich um, musterte Natalja, lächelte. Formte mit den Lippen die Worte: „Na sdarowje!“

Natalja kippte ihr zweites Glas und hielt es Fredo hin, der mit der Flasche wartete wie ein Kellner. Er füllte es, sie hielt es in die Luft und sagte, ohne ihn anzusehen: „Weiß ich natürlich, dass ihr immer in Augen guckt bei Prost.“

Fredo lächelte sein nachsichtiges Großerbruderlächeln.

„In zwanzig Minuten ist die Gans fertig“, sagte Carola.

„Fünfundzwanzisch“, sagte Frau Herrmann, ohne sich vom Herd wegzudrehen. „Wer zerlegt den Vogel?“

„Fredo“, sagte ich.

Als wir später ins Wohnzimmer gingen, fragte mich Natalja: „Bin ich verwirrt. Heißt dein Bruder Friedrich nun oder Fredo?

„Beides“, sagte ich. „Beides.“

Mein Vater hatte uns nach Charakteren aus „Der Pate“ benannt. Das waren seine drei Lieblingsfilme. Pate 1, Pate 2, Pate 3. Wir hatten sie jedes Jahr zu Weihnachten gesehen, schon als Kinder. Meine Klassenkameraden schauten „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ und „Kevin, allein zu Haus“, wir guckten den Paten, den ersten Teil am Heiligen Abend. Anschließend fuhren wir zur Christmesse nach St. Elisabeth in Königs Wusterhausen, obwohl niemand von uns Katholik war. Auf dem Heimweg hatte ich jedes mal Angst, erschossen zu werden beziehungsweise von meinem Vater aufgefordert zu werden, irgendjemanden zu erschießen. Um anschließend nach Sizilien verschickt zu werden, wo immer das war. Das waren die Ängste meiner Kindheit: Am ersten Feiertag mit einem blutigen Pferdekopf im Bett wachzuwerden. Der erste Sohn meines Vater sollte Fredo heißen. Friedrich war ein Kompromiss, weil meine Mutter keinen Jungen mit dem Namen Fredo Hille in den Kindergarten Bestensee schicken wollte. Meinen Namen, Michael, konnte man sowohl deutsch als auch englisch aussprechen. Weil für meine Mutter auch Santino nicht infrage kam, hieß unser jüngster Bruder Tom, wie der Familienanwalt der Corleones. Das war alles nur schwer zu erklären: die Sehnsüchte meines Vaters, Träume, die ihn rausführten aus dem Brandenburger Süden in den Italiens.

Tom kam zum Essen. Er war kein Consigliere geworden, er hätte einen gebraucht. Er machte irgendwas mit Medien, was genau, war nicht klar. Er lebte in einer Hinterhofwohnung in Prenzlauer Berg, die kleiner war als der Innenraum von Fredos Geländewagen, und trug Mäntel, die er sich nicht leisten konnte. Sein Selbstbewusstsein schien darunter nicht zu leiden.

Ich hatte noch den leicht tranigen Geschmack der Gans im Mund, die ich nun doch gegessen hatte, weil ich ja schon keine Hausschuhe trug wie die anderen. Frau Herrmann hatte mir eine Keule gegeben. Die Portion meines Vaters hatte sie in kleine Teile geschnippelt und auf den Teller geschaufelt wie Babybrei. Die Gans kam von einem langjährigen Kunden seines Optikergeschäftes.

„Gleitsichtgünther“, hatte mein Vater gerufen. „Aus Egsdorf.“

Sie hatte 60 Euro gekostet, was ein Schnäppchen war, verglichen mit den Gänsen, die man sonst so bekam. In Prenzlauer Berg zahle man über 200 Euro für eine Fünf-Kilo-Gans, sagte Tom. Darum drehte sich das Tischgespräch. Ich war dankbar, dass wir die großen Weltkrisen umschifften. Letztes Jahr war der Weihnachtsfrieden auseinandergeflogen, weil Tom eine Hippiemaus zum Essen mitgebracht hatte, die andeutete, dass unsere Mutter womöglich an den Nachwirkungen ihrer dritten Corona-Impfung gestorben war. Der Booster-Tod. Mein Vater war noch vor der Bescherung ins Bett gegangen. Jetzt kam ich mit einer russischen Tischdame. Ewig konnte man die Gänse nicht aus dem Krieg heraushalten.

„Was heißt eigentlich Gans auf Russisch?“, fragte Tom, als ihm Frau Herrmann ein Stück Brust nachlegte. „Chans?“

Natalja sah ihn an.

„Im Russischen gibt es das G, Thomas“, sagte Carola. „Es gibt nur kein H.“

Carola war CDU-Abgeordnete, aber sie war in Wildau zur Schule gegangen.

„Gansi Flick“, rief mein Vater.

Alle sahen ihn an.

„Russisch war meine erste Fremdsprache“, sagte er. „Ja chiwu f Chohen Neuendorfje.“

„Du bist aus Hohen Neuendorf, Jürgen?“, fragte Carola.

Mein Vater winkte ab.

„Gans heißt Gus“, sagte Natalja.

„Gus“, sagte Fredo mit mehr russischem Akzent als Natalja.

Sie nickte.

„Geinz Rühmann“, sagte mein Vater und sah mit aufgeblähten Nasenflügeln in die Runde. „Weihnachten mit Geinz Rühmann. Wir haben die Schallplatte. Erst die Glocken und dann Geinz.“

Ich bekam einen Lachanfall. Es war, als löse sich ein Krampf in meinem Kopf.

Seit zwei, drei Jahren schien alles, was man tat, Teil einer Schlacht zu sein. Jedes Stück, das wir im Theater spielten, kommentierte die Krisen der Zeit. Die Panzer und die Lockdowns. König Lear oder König der Löwen. Alles sprach für Waffen oder gegen sie. Es gab Tage, da schloss ich meine Bürotür ab, weil ich das Gefühl hatte, ein falsches Wort von mir könnte einen Weltkrieg auslösen. Nicht gut für jemanden, der für Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich war. An so einem Tag hatte ich Natalja gefragt, was sie über die Feiertage machte. Sie hatte im Foyer gestanden und auf den Spielplan geschaut. Sie war erst wieder im Januar dran. Mit Eugen Onegin. Wenn Holzmüller nicht auch diese Oper aus dem Programm strich, weil Tschaikowski aus Petersburg kam. Wie Putin. Ich wusste gar nicht, woher Natalja stammte, und ich hatte keine Ahnung, wie sie an diesem Provinztheater gelandet war. Sie war seit zweieinhalb Jahren da, vielleicht wegen dem Mordanschlag auf Nawalny.

„Gästeappartment“, hatte sie gesagt. „Und Weißwein.“

Das Wohnhaus für unsere Theatergäste war ein Neubaublock aus Ostzeiten, in dem sie zu Weihnachten bestimmt ganz allein wäre. Ich hatte gefragt, ob sie nicht für ein paar Tage mit nach Berlin kommen wolle, wo ich immer noch meine kleine Wohnung hatte. Ich würde auf der Couch schlafen. So war sie am Ende hier gelandet, im Wohnzimmer des Paten von Bestensee, der einen Witz gemacht hatte, den sie nicht verstand. Wie sollte man Heinz Rühmann erklären?

Quax der Bruchpilot, Feuerzangenbowle, der Hauptmann von Köpenick. Held von Goebbels und Göhring, später Goldene Kamera als größter deutscher Schauspieler des Jahrhunderts. Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern.

„Und Sie sind Sängerin?“, fragte Carola „Da oben?“

Natalja nickte, sah mich an.

„Und wo kommen Sie eigentlich her?“, fragte Carola.

„Nischni Nowgorod“, sagte sie. „Gorki.“

„Die Mutter“, sagte Fredo.

„Was?“, fragte Tom.

„Maxim Gorki. Die Mutter. Das Buch. Bist du zu jung für“, sagte Fredo.

Natalja sah zwischen meinen Brüdern hin und her.

„In Nischni Nowgorod, da gibt’s kein Kussverbot und keine Hungersnot“, sagte unser Vater.

Frau Herrmann sah ihn bewundernd an.

„Peter Alexander“, sagte er.

„Zar Peter?“, fragte Natalja.

Ich schüttelte den Kopf.

„Heidschi bumbeidschi bum bum“, sagte mein Vater. Er erhob sich vom Sessel und verließ langsam das Wohnzimmer. Wir schauten ihm hinterher, als trete er von einer Bühne ab. Vielleicht legte er sich schlafen, wie im letzten Jahr. Er blieb nochmal stehen, drehte sich zu uns um und sagte „Chandikap“ und dann „plocho“. Er lief kopfschüttelnd weiter. Er hatte wahrscheinlich gar nicht mitbekommen, dass es seit einem Dreivierteljahr Krieg gab. Er lebte in der Peter-Alexander-Welt. Mit Heinz Rühmann, Ivan Rebroff, der Gruppe Dschingis Khan. Wirf die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land. Hohohoho. Hey!

„Mussten Sie Russland aus politischen Gründen verlassen?“, fragte Carola in die Stille.

Von der Antwort hing womöglich ab, ob sie bis zur Bescherung bleiben konnte, als CDU-Abgeordnete. Wenn sich rumsprach, wer bei ihrem Schwiegervater zu Besuch war, gab es im Januar eine Kleine Anfrage im Brandenburger Landtag. Ist es wahr, dass sie mit Russen feierten, während Putins Truppen in der Ukraine Wohngebiete bombardierten?

Natalja atmete aus. Vielleicht sagte sie gleich die drei Sätze auf, die in Holzmüllers Faltblatt gestanden hatten. Ein Schwur auf die Werte der Demokratie. Ich dachte an die deutschen Fußballer, die sich in Katar die Hände vor den Mund gehalten hatten. Die Armbinde der Ministerin auf der Tribüne. All die Gesten.

„Anna Netrebko darf nicht mehr in München singen und auch nicht in New York, weil sie sich nicht ausreichend vom Krieg distanziert hat“, erklärte Tom. Und an Carola gewandt: „Und deine Bundeskanzlerin würde sie auch nicht mehr zum Essen einladen.“

„Meine Bundeskanzlerin?“, fragte Carola.

„Meine war sie jedenfalls nicht“, sagte Tom.

„Anna Netrebko?“, fragte Natalja.

„Ja, sie war mal zum Abendessen bei der Kanzlerin“, sagte Tom.

„Vor oder nach Minsk?“, fragte Carola.

„Minsk?“, fragte Natalja.

„Das Abkommen, Normandieformat, pipapo“, sagte Fredo.

Wir schienen in eine Talkshow geraten zu sein. Der politische Stammtisch von Bestensee. Der Gastgeber war auf dem Klo. Oder im Bett. Seine Nachkommen organisierten eine neue Weltordnung unterm Weihnachtsbaum.

„Ich wäre froh, nicht in New York singen zu dürfen“, sagte Natalja. „Ich darf nur nicht singen in Neustrelitz.“

Frau Herrmann schaute, als würde ihr der Vergleich das Hirn sprengen.

Unser kleiner Bruder Tom holte zu einem Vortrag aus, in dem er die Verlogenheit der deutschen Politik anprangerte. Es kam alles vor: die Profite der großen westlichen Gaskonzerne, die Bandenwerbung in Katar, die Flugbereitschaft der Bundesregierung, die F35-Bomber, die sie bei den Amerikanern kauften, der deutsche Kampfpanzer Puma, der in jedem Manöver ausfiel, Boris Johnson, der die Friedensverhandlungen in Istanbul torpedierte und natürlich Olaf Scholz bei den Saudis. Es war wohl als Solidaritätsadresse an unseren russischen Gast gedacht, aber man hatte nicht den Eindruck, dass ihm Natalja leid tat. Es ging ums Prinzip. Carola räusperte sich. Sie vertrat hier den Nachbarwahlkreis des Bundeskanzlers und der deutschen Außenministerin, mit anderen Worten: die Welt.

„Der russische Angriffskrieg stellt uns alle vor große Herausforderungen“, erklärte sie, holte Luft und stoppte dann, weil sie eigentlich alles gesagt hatte.

Natalja trank ihr Weinglas aus, Fredo schenkte nach. Sie kippte auch das schnell. Dann stand sie auf und bewegte sich in die Mitte des Raumes. Im Haus hörte man etwas rumpeln. Vielleicht arbeitete mein Vater an seinem Handicap, dem schlechten. Frau Herrmann stand auf und lief in Richtung des Gerumpels. Natalja suchte einen festen Stand. Man sah die Spuren ihrer Winterstiefel auf der Auslegware. Sie breitete die Arme aus, sagte ohne Vorbereitung: „Arie von Schneemädchen. Snegurotschka.“

Carola sah mich an, ich nickte. Tom sagte so leise, dass ich es gerade noch hörte: „It ain’t over till the fat lady sings.“ Ich hätte ihm gern ins Gesicht geschlagen.

Dann sang Natalja ihre Arie aus der Oper, die sie in Neustrelitz nicht singen konnte. Oksanas Lied.   Für einen Moment konnte ich mir vorstellen, welchen Text sie für den Spielplan des Stadttheaters Neustrelitz hätte schreiben können. Die russische Diva Natalja in der Garnisonsstadt der Roten Armee. Die Gutsherrentochter Oksana im Zarenreich. Ein Licht fiel auf die Zeit, zumindest bildete ich mir das ein. Meine Schwägerin Carola schaute ängstlich aus dem Panoramafenster in den verstruppten, matt vom weißen Weihnachtsstern beleuchteten Garten unserer Eltern. Vielleicht hatte sie Angst, dass ihre Wählerschaft dort draußen eine Bürgerwehr bildete. In Bestensee war allerdings nicht klar, wen die bewachen würden. Die ganz Rechten kamen ja schon wieder in Russland an. Es wäre denkbar, dass gleich besorgte Bürger ins Wohnzimmer des Optikers stürmten und die russische Diva auf ihr Schild hoben.

Natalja war in ihrer Rolle versunken, sie wiegte sich wie Oksana, die goldene Schuhe trägt, die der Teufel der Zarin abschwatzte, damit sie den Schmied Wakula aus dem ukrainischen Dorf Dikanka heiratete.

Als sie fertig war, klatschten wir. Natalja verbeugte sich. Der Knicks, endlich. „Das war eine Arie aus der Oper: ‚Die Nacht vor Weihnachten‘ von Rimski-Korsakow. Das Libretto setzt sich übrigens sehr für demokratische Verhältnisse in der Kunst ein“, sagte ich wie ein Klassikradio-Moderator. „Und es gibt viele Zitate ukrainischer Volkslieder.“

„Gut“, sagte Carola. Sie schien erleichtert.

Frau Herrmann und mein Vater kehrten zurück. Er trug ein kleines Päckchen. Sie führte ihn zu seinem Stuhl. Er setzte sich vorsichtig, das Päckchen im Schoß.

„Du hast den Kulturteil verpasst, Pops“, sagte Fredo.

Mein Vater sah seinen ältesten Sohn an, der Blick des Paten strich über ihn wie ein Scanner.

„Ich kann mein Unternehmen nicht an jemanden übergeben, der auf Socken zu einem Geschäftstermin erscheint“, sagte er. Ich sah auf Fredos Stoppsocken, sie hatten die Weihnachtsfarben, grün und rot.

„Was denn für ein Geschäftstermin, Pops?“, fragte Tom.

Unser Vater hob leicht die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er sah plötzlich anders aus, voller im Gesicht. Er hat sich Papiertaschentücher in die Backen gesteckt, dachte ich, wie Marlon Brando, als er zum Casting für Vito Corleone erschien. Er hatte das früher manchmal gemacht, als wir Kinder waren. Frau Herrmann nickte ihm zu, offenbar nahm er an, dass wir uns hier zu einer Art Testamentseröffnung unterm Baum versammelt hatten. Die Familie.

Fredo starrte auf seine Weihnachtssocken, als sei dort unten der Schlüssel zum Familienschatz versteckt. Seine Frau Carola wechselte das Thema, bevor es zu spät war: „Das war sehr schön, Natalja. Aber euer Weihnachten ist doch erst im Januar, oder?“

„Väterchen Frost“, sagte Fredo tapfer. „Jolkafest und so weiter.“

„Ich bin Jude“, sagte Natalja.

Offenbar war ihre russische Seele noch komplizierter, als ich angenommen hatte. Man spürte, wie das Weltgetriebe in unserem Wohnzimmer knirschte. Die Rollen waren gerade noch so schön verteilt gewesen.

„Jüdin“, sagte Carola, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Natalja sah sie fragend an.

„Du sagtest Jude, aber du bist ja Jüdin“, sagte Carola. „Genau genommen.“

Der deutsche Charakter in zwei Wörtern.

Unser Vater starrte ins Nirgendwo, auf der Suche nach einem Erben. Ich war der einzige Sohn, der angemessene Schuhe trug, hatte aber keine Ahnung von Brillen.

„Was hast du denn da eigentlich mitgebracht, Pops?“, fragte Tom und zeigte auf das Paket, das im Schoß unseres Vater lag. Der sah ihn an, als müsste er überlegen, wer er sei. Dann rief er: „Meine Makarow natürlich“, schlug das Papier auseinander, und da lag eine Pistole.

„Jürgen!“, rief Carola.

„Die habe ich einem Major aus Teupitz abgekauft. In den 90ern. Kurz bevor die Rote Armee abzog“, sagte mein Vater und nahm die Pistole in die Hand. Er lächelte Natalja an. Vermutlich dachte er, er bereite seinem russischen Gast eine kleine Freude mit der sowjetischen Wumme.

Natalja trat einen Schritt auf mich zu.

„Sagtest du, es gibt See, Michael?“, fragte sie und nickte in Richtung Panoramafenster. In Richtung Freiheit. Mein Name klang jetzt russisch. Michail.

Wir standen auf dem Steg und sahen auf den schwarzen See. Es nieselte. Es hätte mich nicht überrascht, wenn dort drin im Haus ein Schuss gefallen wäre. Die Frage war, wen er treffen würde. Die Ladestation für Fredos Volvo? Oder Fredo selbst? Im 2. Teil des Paten wurde Fredo beim Angeln erschossen, weil er die Familie verraten hatte. Kamen wir irgendwann noch mal raus aus unseren Rollen? Oder würden wir in ihnen sterben?

Aus der Stille der Nacht löste sich ein Geräusch, das lauter wurde. Ein Helikopterknattern. Bald sah man, dass der Hubschrauber mit einem Suchscheinwerfer durch die Heilige Nacht strich. Es schien mir, als reagierten sie auf einen Schuss, der noch nicht gefallen war. Überall lauerte Gefahr. Exilrussen, Landadelige, Verschwörer. Natalja nahm meine Hand. Sie beruhigte mich, nicht ich sie, dachte ich. Sie hatte warme Hände.

Der Helikopter flog über uns hinweg, weiter in Richtung Süden. Dort schien er im Himmel stehen zu bleiben. Die Suchscheinwerfer der Polizei leuchteten über Motzen wie der Weihnachtsstern.