Eine Weihnachtsgeschichte

Foto: Jabs

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Die blaue Linie

Eine Weihnachtsgeschichte von Alexander Osang

Fischer drehte die Platte um, bevor er ging. Seine Hand zitterte leicht, als er die Nadel aufsetzte. Blue Christmas. Elvis. Ein Lied, wie geschrieben für diese Berliner Weihnachtswoche.

Alles wurde in einen Strudel gezogen. Elvis. Das T-Shirt, das man trug. Auch die Trauer, gerade die. Er checkte sein Handy, reflexartig. Keine Nachrichten. Niemand erkundigte sich, ob er okay sei. Niemand schrieb, dass er in Gedanken bei ihm sei. Er lebte doch in Berlin, wenn auch in Spandau.

Fischer sah zum Gabentisch, wo die Beats-Kopfhörer lagen, die er sich geschenkt hatte sowie „Lieben“ von Knausgard, das er von seiner Mutter bekommen hatte, wahrscheinlich, weil er ihr zum Geburtstag „Sterben“ geschenkt hatte. Es war ihre Art, miteinander zu reden. Die Weihnachtskarten von seinem Optiker, seinem Sparkassenberater, seinem Weinhändler und von Dascha, die den Winter in Australien aussaß. Zusammen mit IHM. Sie hatte nicht WIR geschrieben. Noch nicht.

„Santa, Bring My Baby Back“, sang Elvis. Er las die Karte noch einmal, obwohl er sie auswendig kannte. „Es ist so heiß hier, Mats. So weit weg war ich noch nie, und man spürt es. Nicht nur, weil der Schnee fehlt. Alles ist so, ich weiß nicht, unwesentlich? Selbst die giftigen Schlangen. Die Spinnen. Auch die Haie. Nicht mal du hättest hier Angst vor Haien. Ich habe welche gesehen im Great Barrier Reef. Sie sind so irrelevant hier unten. Das ganze Land wirkt so unerheblich. Klingt seltsam. Ist es auch. Aber nicht schlimm. Es war ja alles erheblich genug zuletzt. Merry Christmas. Dascha.“

Ein Gruß wie ein Kuss auf die Stirn. Ein Jahresrückblick auf der Rückseite einer Ansichtskarte aus dem Outback. Erst starb David Bowie, zuletzt Zsa Zsa Gabor, dazwischen unsere Liebe. Von dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt wusste sie „da unten“, auf dem Kontinent der Unerheblichkeit glücklicherweise nichts. „I’ll Be Home For Christmas“, sang Elvis, als Fischer die Tür schloss.

Er hörte ihn noch im Treppenhaus. Der King moderierte die Weltlage und sein Liebesleben. Von der Straße sah er hoch in sein erleuchtetes Wohnzimmer. Er hatte den Baum für die anderen geschmückt, für Leute, die seine Welt von außen sahen. Eine Art Weihnachtsgardine. Bis Montagabend war es ein Schutzschild gegen die Seligkeit seiner Nachbarn gewesen, jetzt sah es aus wie ein Statement christlichen Starrsinns.

Fischers Trauer war vom Berliner Weltschmerz verschluckt worden. Dafür hasste er die Scheiß-Terroristen wirklich. Er lief durch die leeren Straßen zur S-Bahn, auch die leer. Nachmittagschicht-Ingrid saß schon im Mantel da, als er kam. Es roch auch heute, am Heiligen Abend, nach Desinfektionsmitteln, Pisse und Herztropfen. Kerzen waren im Altersheim verboten, Räucherkerzen eingeschlossen.

„Stille Nacht, Mats“, sagte Ingrid und schob ihm die Schichtunterlagen über den Tresen. Sie sah zufrieden aus, wahrscheinlich hatte sie lange über diese Eröffnung nachgedacht.

Das Heim war heute Nacht nur halb belegt. Über Weihnachten holten viele Familien ihre Senioren nach Hause. Er war mit den schlafenden alten Menschen allein im Haus. Genau die Art von Gesellschaft, die er ertragen konnte. Eine Schwester und zwei Pfleger hatten Bereitschaft.

„Es ist noch ’ne halbe Flasche Sekt im Kühlschrank“, sagte Ingrid und küsste ihn auf die Wange. Sie roch, als habe sie die andere Hälfte getrunken.

„Frohe Weihnachten, Ingrid“, sagte er.

Dann setzte er sich hinter den Empfangstresen. Im Fernseher an der Decke lief irgendeine deutsche Weihnachtskomödie mit Heinz Rühmann oder Heino Ferch, Schauspieler, die er nicht mehr auseinanderhalten konnte. Seit er denken konnte, lief immer dasselbe.

Unser Bollwerk gegen die wilde Welt. Rühmann und Ferch. Zwei deutsche Soldaten, Pfarrer, Lehrer, Väter und Kommissare. Er schaute in den Kühlschrank, der Sekt war halbtrocken. Er machte den Kühlschrank wieder zu, ging zum Tresen zurück und horchte ins Heim. Es war ganz still. Nicht mal Frau Wendt schrie. Irgendwelche Aggregate surrten, die Uhr im Foyer tickte, es war kurz nach halb elf. Er trat vors Heim und steckte sich einen Joint an. Gegenüber stand eine moderne Kirche im Nebel. Das Licht glimmte durch schmale, hohe Fensterschlitze, Christmette. Wahrscheinlich beteten sie gerade für die Seelen der Menschen vom Breitscheidplatz. Es sah unheimlich aus, fand Fischer. Nicht wie eine Kirche, eher wie ein Kernkraftwerk.

Einen Augenblick lang dachte er daran, einfach nach Hause zu gehen. Aber da war ja nichts.

Er zählte die toten Stars des Jahres. Bowie, Prince, Cohen, Roger Cicero und Achim Mentzel, Manfred Krug, Alan Rickman und Götz George, Genscher, Cruyff, Fidel, Ali. Wen hatte er am meisten betrauert? Alan Rickman vielleicht, Professor Snape. Oder Götz George, den größten deutschen Schauspieler, den sie nie gekriegt hatten.

Als er ins Foyer zurückkam, saß dort ein Mann in einem weinroten, glänzenden Bademantel und sah ihn ernsthaft an. Herr Petersen, soweit er sich erinnerte. Mats Fischer arbeitete seit zwei Jahren im Heim. Er kannte die Bewohner, aber der Joint waberte in seinem Hirn, Namen waren sowieso nicht seine Stärke. Petersen, fiel ihm ein, spielte beim Kaffeetrinken am Nachmittag manchmal Klavier für die anderen Heimbewohner. Ein ehemaliger Lehrer oder ein Schlagerkomponist. Der Mantel sah nicht billig aus.

„Egon Warnke ist verstorben“, sagte Petersen.

„Aha“, sagte Fischer. Er konnte sich nicht erinnern, wie es um Petersens Geisteszustand bestellt war. War er „durcheinander“, wie sie das im Heim nannten. Ziemlich durcheinander? Völlig durcheinander? Er sah auf den Fernseher, immer noch Rühmann beziehungsweise Ferch. Jetzt in Schwarz-Weiß.

„Ich mochte ihn nicht besonders“, sagte Petersen. „Niemand mochte ihn.“

„Und woher wissen Sie das?“, fragte Fischer.

„Ich kenne ihn schon seit, warten Sie, vier Jahren“, sagte Petersen.

„Ich meine, dass er tot ist.“

„Er atmet nicht“, sagte Petersen und schüttelte den Kopf. Was für eine Frage.

Lehrer, dachte Fischer. Er sah auf den Plan. Zimmer 432. Warnke war der Nachbar von Petersen.

Und er war wirklich tot.

Der Mund leicht geöffnet, das Kinn speichelnass, die Zähne auf dem Nachttisch. Auf seinem Fernseher lief „Tatsächlich Liebe“. Die Szene, in der Hugh Grant gemeinsam mit seiner zukünftigen Freundin und einem als Tintenfisch verkleideten Jungen im Fonds seines Präsidentenautos zum Krippenspiel fährt. Fischer mochte den Film, und er mochte besonders die Krippenspielszene. Er blieb neben dem toten Herrn Warnke stehen und sah auf den Bildschirm. Als das dunkelhäutige Mädchen „All I want for Christmas“ sang, drehte er den Ton ein wenig lauter. Er musste immer schlucken, wenn er das sah, aber diesmal liefen ihm die Tränen übers Gesicht.

„Wat iss ’n hier los“, sagte eine Stimme in der Tür. „Disko?“

Die Stimme gehörte Frau Pistorius, von der er wusste, dass sie früher Hockey gespielt hatte. Feldhockey, wie Frau Pistorius nichtmüde wurde zu betonen.

„Herr Warnke ist verstorben“, sagte Fischer und schaltete den Fernseher aus, als sich Liam Neeson und sein Stiefsohn gerade auf den Weg nach Heathrow machten, von wo aus das dunkelhäutige Mädchen nach Amerika fliegen würde. Fischer hätte ewig weitersehen können.

„Ach so“, sagte Frau Pistorius und sah kurz ins Bett.

„Ich hätte nich jedacht, diss dem einer mochte, dem Warnke, dem ollen Muffelkopp“, sagte sie.

Mats Fischer hätte Frau Pistorius gern erzählt, dass er nicht um Egon Warnke weinte, sondern um die Liebe seines Lebens, Dascha, die mit einem Bielefelder Fernsehjournalisten namens Nick seit zwei Monaten durch Australien reiste. Schließlich war Weihnachten, und da sagte man sich die Wahrheit.

Auch etwas, was er aus „Tatsächlich Liebe“ wusste, seinem  moralischen Ratgeber für alle Lebenslagen. Er hatte dreizehn Schuljahre hinter sich, zehn Semester Rechtswissenschaften und eine zweijährige Altenpflegerausbildung, aber alles, was er brauchte, um sich zu erklären, war eine romantische  Weihnachtskomödie mit Hugh Grant und Keira Knigthley. Auch Alan Rickman spielte mit. Snape. Tot wie Egon Warnke. Aber das war alles zu kompliziert und so sagte er nur: „Ich ruf  mal den Arzt an.“

„Dafür iss vielleicht ’n bisken spät“, sagte Frau Pistorius.

„Wegen dem Totenschein“, sagte Fischer und zog vorsichtig die Tür zu Egon Warnkes Zimmer zu.

„Ick komm mit“, sagte Frau Pistorius.

Im Fahrstuhl nach unten sagte sie: „Ich habe ja früher Hockey gespielt. Feldhockey, um genau zu sein.“

„Ach was“, sagte Fischer.

„Doch, doch. Bei Rot-Weiß“, sagte Frau Pistorius. Im Essensaal brannte Licht. Auf der Bühne, am Flügel, saß Herr Petersen und klimperte. Links und rechts von ihm standen Weihnachtsbäume, und so erinnerte Petersen mit seinen weißen Haaren und dem roten Bademantel an den Weihnachtsmann. Frau Pistorius setzte sich in die erste Reihe.

Mats Fischer rief den Bereitschaftsdienst an und informierte sie über Warnkes Tod. Dann ging er in den Saal. Petersen sah auf und sagte: „Ich spiele jetzt ein Lied für Egon Warnke. A Most Peculiar Man.“

Fischer nickte, als segne er das ab.

„Er war ein seltsamer Mann“, sang Herr Petersen.

„Er lebte allein in seinem Haus, allein in seinem Zimmer, allein in sich. Ein ziemlicher wundersamer Mann. Er sprach zu keinem und niemand sprach zu ihm. Er war nicht nett, es war ihm egal. Er war nicht wie die anderen, die andern im Saal. Ein ziemlich seltsamer Mann.“

Frau Pistorius klatschte.

„Haben Sie das geschrieben?“, fragte Mats Fischer.

„Danke für die Blumen“, sagte Petersen. „Aber das waren die Herren Simon & Garfunkel. Ich habe es nur ins Deutsche übertragen.“

„Oh“, sagte Fischer. Erstens, weil er den Song nicht kannte, und zweitens, weil er Petersen eher für einen Richard-Claydermann-Mann gehalten hatte. Einen Kaffeehauspianisten. Dabei lagen Paul Simon und Art Garfunkel vom Alter her deutlich näher an Herr Petersen dran als an ihm. Die beiden waren 75. Es gab weit jüngere  Heimbewohner. Theoretisch hätte Malcolm Young auf ihrer Pflegestation liegen können.

„Es sind ja viele berühmte Leute in diesem Jahr gestorben“, sagte Fischer.

„Es waren nicht mehr als sonst“, sagte Petersen. Vermutlich hatte er auch damit recht. Nur weil Prince und Bowie gestorben waren, hieß das ja nicht, dass die Menschheit ausstirbt. Das dachte nur er. Es war die Depression. Jedes Lied klang für ihn wie ein Totengesang. Eigentlich waren die Zeiten wie gemacht für ihn. Der Mann in Schwarz.

„Richtig“, sagte Fischer. „Aber von den Prominenten: Wen werden Sie am meisten vermissen?“

„Hildegard Hamm-Brücher“, sagte Petersen ohne nachzudenken. „Wunderbare, aufrechte Frau.“

Fischer hatte keine Ahnung, wer das war. Vermutlich eine Heimbewohnerin, deren Namen er nicht kannte. Petersen begann, vielleicht für die verstorbene Dame mit dem Doppelnamen, „Stay“ zu spielen. Jackson Brown. Auch schon fast siebzig.

Jemand berührte Fischer an der Schulter. Lisa Kramer, die Nachtschwester.

„Alles okay?“, fragte sie.

„Na ja“, sagte er.

Sie sah ihn an. Mütterlich. Sie war zwei Jahre jünger als er.

„Meine Freundin ist weg, und Herr Warnke liegt tot in der 432.“

„Das Herz“, sagte sie.

„Bei mir auf jeden Fall“, sagte er.

Sie lächelte. Dann kam der Arzt, die beiden gingen nach oben, machten die Untersuchungen, den Papierkram und brachten Egon Warnke anschließend in den Kühlraum im Keller. Morgen würde man weitersehen. Die Tagschicht.

Der Arzt schaute kurz in den Essenraum, wo Herr Petersen gerade „Leningrad“ spielte, von Billy Joel, auch schon 67. In der ersten Reihe saßen neben Frau Pistorius nun Frau Schmidt und Frau Mentzel, die eine große Sonnenbrille trug.

„Es hört nie auf“, sagte Mats Fischer. „Für Herrn Warnke natürlich schon.“

Der Arzt lächelte schmallippig, schüttelte den Kopf und ging zu seinem winzigen Auto.

Eine Minute später öffnete sich die Fahrstuhltür, und Herr Kretzschmar schob seinen Rollator ins Foyer. Er trug ein Cordjackett. Sonst nix.

„Kubakrise“, rief Kretzschmar.

„So sieht’s aus“, sagte Fischer. „Sie holen sich den Tod, Herr Kretzschmar. Oder wenigstens irgendwas mit der, äh, Blase. Ich bringe Sie hoch aufs Zimmer. Da ziehen Sie sich richtig was an. Und wenn Sie dann immer noch Lust haben, können Sie gern teilnehmen an unserem kleinen weihnachtlichen Mitternachtskonzert.“

„Kommet Ihr Hirten“, sagte Kretzschmar und schlurfte zurück in den Fahrstuhl. Sein Hintern, der unterm Cordjackett heraushing, sah aus wie ein trauriger Hund.

„Auch das“, sagte Fischer.

„Wir müssen die Situation verwahrheiten“, sagte Kretzschmar.

„Das ist immer eine gute Idee“, sagte Fischer.

Sie hielten auf der Pflegestation und liefen den blauen Streifen entlang, der sich über den Fußboden zog. Die Bewohner der Pflegestationen wussten, solange sie auf der blauen Linie wandelten, konnte ihnen nichts passieren. Eigentlich nicht schlecht, dachte Fischer. So eine blaue Linie. Kretzschmar setzte sich auf sein Bett, sah sich auf die Füße und seufzte.

„Wichtig ist das Antrittstempo“, sagte Kretzschmar. „Die ersten zehn, fünfzehn Meter. Die entscheiden alles.“

Fischer hängte das Cordjackett in den Schrank. Es war von Givenchy, aus einem anderen Leben. Er zog Herrn Kretzschmar einen Schlafanzug an, deckte ihn zu und löschte das Licht.

„Was will man denn auf dem Weihnachtsmarkt?“, fragte Herr Kretzschmar aus dem Dunkel.

„Das habe ich mich auch gefragt“, sagte Fischer.

Er dachte an den Angstforscher, der im Radio erzählt hatte, dass er jetzt auf den Weihnachtsmarkt gehen würde, obwohl er Weihnachtsmärkte nicht mochte. Mussten wir mit dem Luftgewehr auf Papierblumen schießen, kandierte Äpfel essen und Kettenkarussell fahren, bis uns schlecht wurde? Als Zeichen gegen den Terrorismus? Durfte man schon lachen, oder musste man bereits lachen?

Mats Fischer machte eine Joker-Fratze in den Spiegel des Fahrstuhls. Warum so ernsthaft?

Herr Petersen spielte „Tiny Dancer“. Elton John, fast siebzig. Frau Pistorius schlief. Frau Mentzel vielleicht auch, was man wegen der großen Sonnenbrille nicht richtig sehen konnte. Frau Schmidt schlief auf keinen Fall. Sie strahlte. Auf dem Flügel stand eine Flasche Whiskey. Daneben stand Nachtschwester Lisa und sang.

„Blue Jean Baby, L.A. Lady, Seamstress For The Band Pretty Eyed, Pirate Smile, You’ll Marry A Music Man.“

Dazu lachte sie wie eine Piratin.

Man müsste es filmen und ins Netz stellen, dachte Fischer.  Weihnachten in Berlin. Das Mehrgenerationenseniorenheim. So ging’s doch. Vielleicht sollte man die Whiskeyflasche wegretuschieren, zumal Lisa die aus dem Zimmer des toten Egon Warnke geklaut hatte.

Als er fertig war, applaudierte Frau Schmidt, und auch Mats Fischer klatschte. Nachtschwester Lisa machte einen Knicks.

Petersen goss sich Whiskey ein und sagte: „Ich war noch nie in Kalifornien.“

„Ich auch nicht“, sagte Lisa. Sie sah Fischer an. Er schüttelte den Kopf. Er verreiste nicht gern.

„Es ist wunderschön“, sagte Frau Schmidt. „Der Himmel hat ein ganz anderes Blau als bei uns. So leicht. Das Licht macht die Konturen weicher.

“Petersen trank einen Schluck. Er genoss es. Bademantel, Whiskey, Grand Piano, Groupies. Vielleicht war er doch kein Lehrer, dachte Mats Fischer.

„Würden Sie es mir zeigen, Marianne?“, sagte Petersen, das Whiskeyglas in der Hand wie Dean Martin oder Sinatra.

Frau Schmidt, Marianne, sah ihn an.

„Wären Sie meine L. A. Lady?“

Frau Schmidt nickte. Nachtschwester Lisa weinte, Fischer räusperte sich.

„Heute?“, sagte Sinatra.

„Wir wollen mal nix überstürzen“, sagte Fischer. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb drei, es war genug passiert in dieser Nacht.

„Doch, doch. Ich habe alles beisammen“, sagte Petersen. Haben Sie einen Pass, Marianne?“

„Selbstverständlich“, sagte Frau Schmidt.

„Herr Petersen, bitte“, sagte Mats.

„Ja?“, sagte Petersen.

Mats Fischer hatte das Gefühl, die kleine Seniorenshow an dieser Stelle unbedingt beenden zu müssen. Er musste die Alten schützen. Er hatte die Verantwortung. Sicher, das war kein Gefängnis, sie konnten jederzeit gehen, wohin sie wollten. Er fragte sich manchmal, wieso sie blieben. Sie schlichen durchs Foyer, sahen ängstlich nach draußen wie auf eine Welt, in der sie nicht atmen konnten, eine Welt ohne Sauerstoff. Eine Welt, in der die blaue Linie abriss. Er wollte, dass sie hierblieben, weil er hierblieb. Er wollte sich nicht zurückgelassen fühlen. Er war es, der Angst vor der Welt dort draußen hatte. Deshalb dachte er an die Toten, wenn das Jahr zu Ende ging, deshalb mischte er sich unter die Alten und Gebrechlichen. Wenn das Abendland ausschließlich von Menschen wie ihm bevölkert wäre, hätten die Terroristen gewonnen, ohne eine einzige Bombe gezündet zu haben. Darum hatte ihn Dascha verlassen.

„Wollen wir nicht erstmal gucken, ob es überhaupt Flüge gibt?“, sagte er.

„Gute Idee“, sagte Petersen.

Sie buchten zwei sehr teure Business-Class-Tickets nach Los Angeles.  Zwischenstopp in Düsseldorf. Petersen hatte nicht nur den Pass, er hatte auch eine goldene American Express Card.

Um drei gingen die beiden auf ihre Zimmer, um ihre Taschen zu packen und sich ein bisschen auszuruhen. Um vier kam Kretzschmar, um halb fünf hatte Fischer ihn wieder im Bett. Auf dem Rückweg balancierte er auf der blauen Linie der Pflegestation wie ein Drahtseilartist, als sein Handy vibrierte. Dascha schickte ein Foto von einem Skorpion. Der Skorpion saß mit erhobenem Schwanz auf einer Hand. Auf ihrer Hand.

„Keine Angst“, stand darunter.

Er würde sie immer lieben, beschloss Fischer.

„Willst du nicht nach Hause?“, fragte er Lisa, die mit der Whiskeyflasche auf dem Boden des Foyers wartete, den Rücken an seine Rezeptionskanzel gelehnt.

„Wir sollen weiterhin das machen, wozu wir Lust haben, sagt der Innensenator. Ich habe lange nicht mehr so eine aufregende Nacht erlebt“, sagte Lisa.

Er setzte sich dazu, trank einen Whiskey, sah Heino Ferch und Heinz Rühmann bei der Arbeit zu, die, wie er bemerkte, zu Sinatra, Martin und Sammy Davis jr. geworden waren. Alle drei trugen aus irgendeinem Grund Weihnachtsmannmützen. Die Uhr tickte. Um fünf weckte Fischer Frau Schmidt und Herrn Petersen, um sechs kam die Ablösung.

Paul. Ein 28-jähriger Schwuler aus Oranienburg.

„Frohe Weihnachten“, sagte Paul. „Wie war’s?“

„Wir haben einen Engel im Keller“, sagte Fischer.

„Oh, wer?“, fragte Paul.

„Herr Warnke aus der 432.“

„Ausgerechnet so einer stirbt in der Heiligen Nacht“, sagte Paul.

„Er hat zum Schluss ‚Tatsächlich Liebe‘ geguckt. Er kann kein schlechter Mensch gewesen sein“, sagte Mats Fischer. „Hier sind seine Reiseunterlagen.“

Er schob ihm den Totenschein des Arztes und den restlichen Papierkram über den Tresen.

Er dachte an Petersen, den Pianomann. A most peculiar man.

„Okay“, sagte Paul. Seufzte. Ein guter Junge.

Auf der  Pflegestation ließ Frau Wendt den ersten Schrei des Tages los.

Fischer ging zum Taxi. Auf der Rückbank Herr Petersen, Frau Schmidt und Lisa. Er setzte sich zum Fahrer. Tegel. Am Schalter holte er zwei Esta-Formulare. Bei der Bank tauschten sie 3000 Euro in US-Dollar. Petersen hatte eine kleine schwarze  Ledermappe, die mit Banknoten gefüllt war. Die alten Leute hatten nur Handgepäck. Sie wollten lediglich das Blau sehen, erst mal. Petersen steckte ihm einen Hunderter zu, wie einem Pagen, dann nahm er Frau Schmidt an die Hand und lief durchs Gate in den Himmel.

Lisa und Mats winkten dem Paar hinterher wie ihren Eltern.

Sie traten in den grauen Berliner Morgen zurück.

Erster Feiertag. Sie fuhren mit Petersens Taxigeld nach Hause. Der Fahrer hielt zuerst vor Lisas Haus. Sie sahen sich an, warteten, Lisa gab Mats einen Kuss und stieg aus. Er sagte dem Fahrer seine Adresse, lehnte sich in die Polster und sah auf die Stadt in ihrem vernebelten Weihnachtsschmerz. Er bewegte sich auf einer blauen Linie nach Hause. Sicher.

Mats Fischer drehte noch einmal die Platte um, bevor er sich ins Bett legte. Er hatte Leonard Cohens letzte Platte lange nicht hören können. Zu schmerzvoll. Heute ging es. Cohens Todesgruß klang wie eine Weihnachtsbotschaft.

Ich glaub, ich bin einfach jemand, der gescheitert ist am Ich und Du

Ich bin nicht einsam

Ich hab diese und jene getroffen

Ich reise mit leichtem Gepäck

So wie wir es früher gemacht haben

Seine Trauer um die Welt und um die Frau trennten sich. Als Fischer das spürte, schlief er endlich ein.

Marianne Schmidt und Claus Petersen traten aus dem Flughafen Los Angeles in die Winterwärme Kaliforniens. Sie waren müde, es war ein langer Flug gewesen, und sie hatten schon in der Nacht zuvor kaum geschlafen. Sie sahen nach oben. Der Himmel spiegelte sich in Marianne Schmidts Brille.

„Das Blau, Herr Petersen“, sagte sie.

„Ja“, sagte Petersen. „Das Blau. Ganz beachtlich, Marianne.“

Sie zogen sich die warmen Jacken aus, behielten die Schals aber um.

Sie wussten nicht, wie es von hier  weitergehen sollte. Das Gefühl kannten sie gut.